78 Peter Landau Rechtsentwicklung aufgrund einer Arbeitsteilung von Juristen und Nichtjuristen klingt an, einer offenen Gesellschaft von Rechtsinterpreten. Thöl fafit seine Darlegungen in dem Satz zusammen: „Das Handelswesen gehört dem Beruf des Kaufmanns, das Handelsrecht dem Beruf des Juristen an. Die Dreiteilung der Rechtsquellen kennt auch Levin Goldschmidt in seinem Handbuch des Handelsrechts, das in erster Auflage 1864 und in zweiter 1874 erschien. Da zur Zeit von Goldschmidts Handbuch bereits das ADHGB gait, hatte fiir ihn naturgemäl^ das Gesetzesrecht einen höheren Stellenwert als fiir Thöl: Die handelrechtlichen Usancen werden in der Giederung dem Gesetz nachgeordnet. Aber auch Goldchmidt kennt neben Gesetz und Gewohnheitsrecht das Recht der Wissenschaft. Das wissenschaftliche Recht sei zwar nicht positives Recht; denn das positive Recht bestehe nur aus Gesetz und Gewohnheit. Dieses positive Recht sei jedoch liickenhaft und enthalte nicht die gesamte Rechtsordnung. Die Wissenschaft finde ganz neue Rechtssätze, decke keineswegs nur das im positiven Recht Enthaltene auf. Grundlage fur diese selbständige Produktivität der Wissenschaft sei die „Natur der Sache“ — und dieser Begriff wird von Goldschmidt als „vernunftig erkannte Natur des Menschen und seiner derzeitigen Lebensverhältnisse“ bestinimt.-'"’ Nach Goldschmidt entwickelt die Wissenschaft ein historisch wandelbares Natnrrecht aus den „Tatbeständen des Gemeinlebens“, die die „angemessenen natiirlichen Rechtssätze“ in sich tragen.-^^ Der von der Wissenschaft entwickelte Rechtssatz entspreche meist dem, was „Takt und Bewufitsein des Handelsstandes“ fur angemessen erachten.^^ Das Recht der Wissenschaft sei zwar nicht positiv, aber es sei objektiv, äufiere Norm des menschlichen Zusammenlebens. Goldschmidts Konzeption entspricht weder einemGesetzespositivimus noch einem rechtswissenschaftlichen Positivismus, sondern enthält Ansatzpunkte fiir eine durch begriffliche Abstraktion kontrollierte soziologische Jurisprudenz, man könnte vielleicht sagen, einer soziologischen Prinzipienjurisprudenz. Gerade die handelsrechtliche Rezeption der Puchtaschen Rechtsquellendoktrin verdeutlicht, dafi es sich bei ihr nicht etwa um eine unpraktische lebensfremde Konstruktion handelte. Halten wir noch einmal fest, was das Wesentliche an Puchtas Rechtsquellenlehre war: Fiir sie war einmal Recht nicht mit dem Staatswillen identisch und folglich vielmehr in einer Grundschicht vor- und iiberstaatlich, und zum anderen gab es nach dieser Lehre die Produktion von Rechtssätzen durch die Thöl (wie Anm. 30), § 8 (S. 40). Levin Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. I, 2. Autl Erlangen 1874, §34 (S. 302). Die Produktionskraft des wissenschaftlichen Rechts iiuBert sich in der Zuriickfiihrung der Rechtssätze auf ihre Prinzipien und der Herleitung neuer Rechtssätze durch Analogic (S. 304). Das entspricht völlig Puchtas Pandektenlehrbuch (oben Anm. 15). Goldschmidt (wie Anm. 35), S. 302. In bezug auf diese natiirlichen Rechtssätze sei die Rechtsordnung liickenlos, nicht aber in bezug auf das positive Recht. Goldschmidt (wie Anm. 35), S. 305, Anm. 7. “34
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