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Peter Landau 74 ist in bezug auf ein von ihm zu gestaltendes unvernunftiges Material, nämlich die „Ungleichheit der Verhaltnisse“, kann es auch durch vernunftbestimmte Erkenntnis weitergebildet werden — es können im Rahmen der Wissenschaft neue Rechtssätze entstehen. Dieses wissenschaftliche Recht entsteht nicht etwa nur in juristischer Literatur, sondern auch durch eine Gerichtspraxis, die sich auf Vernunftgriinde stiitzt — zu ihmgehört folglich auch argumentativ entfaltetes Richterrecht.*^ Entscheidend ist, daft Puchta nicht etwa voraussetzt, dab die Kompetenz zur wissenschaftlichen Rechtsbildung normativ abgeleitet sein miisse; sie ist keine Kompetenz, die einer äujleren Autorität bedarf. Wissenschaftliches Recht wirkt nur durch die innere Autorität der Vernunft, innerhalb eines durch Volksiiberzeugung und Gesetz gegebenen Rahmens, der seinerseits nicht vernunftgemäfi deduzierbar ist.“° Puchtas wissenschaftliches Recht kennzeichnet folglich nicht das Recht als eine von der Realität abgeschottete, auf einem autoritativ iiberkommenen Text aufgebaute Begriffspyramide, wie es in der Polemik seines abtriinnigen Jiingers Rudolph v. Jhering geschildert wurde;"’ es setzt vielmehr nur voraus, dafi man eine gedanklich konsistente Rechtsfortbildung unabhängig von gesetzgeberischem Handeln fiir möglich hält. Es ist eine Theorie vomRecht als einer Ordnung von »integrity" im Sinne der Rechtstheorie Dworkins.-- Es wirdvonJuristen entwickelt und ist daher Juristenrecht; aber es ist gewissermafien Juristenrecht zweiter Ordnung, ’’ Zum Recht der Wissenschaft, von Puchta auch als Juristenrecht bezeichnet, vgl. Puchta, Institutionen, § 15 (S. 37), ders., Pandekten, § 16 (S. 28-30); ders., V'orlesungen, Bd. 1, § 16 (S. 4042). Juristenrecht kennt Puchta folglich sowohl auf der Stufe des Gewohnheitsrechts als auch auf derjenigen des wissenschaftlichen Rechts; die Gerichtspraxis enthält nach ihm stets beide Rechtsschichten. Nach Puchta wird im Recht der Wissenschaft der Rechtssatz aus den Prtnzipien des bestehenden Rechts erschlossen, was offenbar etwas anderes als das ihm unterschobene Verfahren eines Deduzierens mnerhalb einer Begriffspyramide ist — hierzu mein Aufsatz „Puchta und Aristoteles" (wie Anm. 16). Die Autorität des wissenschaftlichen Rechtssatzes beruht nach Puchta auf der Autorität, die ihm seine wissenschaftliche Wahrheit gibt, so Puchta, Pandekten, § 16 (S. 29). Dais es sich bei einem solchen Rechtssatz nur umeine Vermutung fiir die Wahrheit handeln kann, also um falsifizierbare Sätze, wird von Puchta ausdriicklich betont, so ders., Vorlesungen, Bd. 1, § 16 (S. 40). Pin sog. wissenschaftlicher Rechtssatz könne daher von einem Richter, der von seiner Unrichtigkeit iiberzeugt ist, nicht angewendet werden, auch wenn er seit Menschengedenken von Gerichten befolgt wurde. Puchtas Rechtsquellenlehre ist demnach fiir Anderungen dcr Gerichtspraxis durchaus offen. ’’ Zur Kritik Jherings an Puchta vgl. meinen Aufsatz ,,Puchta und Aristoteles" (wie Anm. 16), S. 25-30. ’’ Ich beziehe mich hier auf Ronald Dworkin, Law’s Empire, Cambridge/Mass. 1986, insbesondere Kap. 6 und 7. Dworkins Buch ist vielleicht die wichtigste rechtstheoretische Publikation der achtziger Jahre. Implizit wird die Verwandtschaft der Rechtsthecirie der historischen Schule mit der Dworkins festgestellt bei Tomasz Giaro, Das Mehrzweckmodell einer wahrheitsfähigen Rechtsdogmatik. Mit Glossen zum usus hodiernus Caroh Friderici, — gemeint ist wohl: Friderici Caroli (?), RJ 11 (1992), S. 319—329. Die in diesem anregenden Essay entwickelten Gedanken beriihren die hier vorgetragenen Uberlegungen, jedoch mit teilweise konträrer Bewertung.

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