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71 DiKRECHTSQUHLLENLEHRE in DER DEUTSCHEN RECHTSWISSENSCHAFT . . . Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft um 1830—40 - der Zeit des Bans erster Eisenbahnen und des Beginns der industriellen Entwicklung— ein durch langdauernde Ubung bewahrtes Gewohnheitsrecht gegeniiber einer sozialgestaltenden Gesetzgebung bevorzugt. Die wahre Lehre Puchtas sah aber anders aus. Er unterscheidet insgesamt drei Rechtsquellen: 1. Recht als unmittelhares Produkt einer Volksiiberzeugung, des „nationalen Rechtsbewufitseins“, wie er es nennt/ Diese Species von Recht ist fiir ihn die erste und fundamentalste, da sie unmittelbar im Verhalten der diesen Rechtsiiberzeugungen Folgenden hervortritt, also keine Präexistenz der Norm vor der Rechtsanwendung kennt. Das Volksiiberzeugungsrecht kommt nicht durch einen politischen Willensakt des Volks zur Entstehung, sondern im Handeln aufgrund der Uberzeugung.^ Dabei ist aber nicht erforderlich, dafi bei alien Volksangehörigen ein entsprechendes Rechtsbewul^tsein nachweisbar sei, sondern fur den Nachweis einer entsprechenden Rechtsbildung geniigt es, daB die Uberzeugung bei denjenigen vorhanden ist, „die aus der Behandlung und Beurtheilung rechtlicher Verhältnisse einen Beruf machen“, dem Stand der Juristen und Geschäftsmänner.'^ Dieses ohne Gesetze entstandene Recht Puchtas ist also nicht primitives Volksgewohnheitsrecht — „Volksrecht“ im Sinne seines zeitgenössischen Antipoden Georg Beseler — sondern kann sehr differenzierte Rechtsinstitute zum Inhalt haben, die aber eben nicht gesetzlich positiviert sind. Puchta nennt diese Rechtsschicht „Gewohnheitsrecht“; aber man mufi beachten, dafi er immer wieder als zentrale Aussage hervorhebt, dafi dieses Recht nicht durch Gewohnheit (usus) entstehe, sondern nur dadurch in seiner Existenz nachgewiesen werden könne.'° Die Ubung setzt fiir Puchta die Existenz des Gewohnheitsrechts begrifflich voraus — sein Gewohnheitsrecht ist also eigentlich ein Gewohnheitsrecht ohne Gewohnheit. Dieses Gewohnheitsrecht kann auch durch richterliche Praxis, also nicht nur durch aul^ergerichtliche Ubung, festgestellt ^ In diescm Sinne Puchta, Pandekten, 8. Aufl., Leipzig 1856, § 11 (S. 20 f.) und ders., Gewohnheitsrecht, Bd. 2, S. 19. * Puchta, Vorlesungen iiber das heutige römische Recht, Bd. 1, Leipzig 1847, S. 24 f. Ebenso ders., Pandekten, § 12 (S. 21 1.). Puchta, Vorlesungen, Bd. 1, S. 27; ebenso ders., Gew'ohnheitsrecht, S. 19 f. Diese ausschlaggebende Rolle der Juristen bei der Bildung von Rechtsiiberzeugungen fiihrt zu Puchtas These von den Juristen als „Repräsentanten der Nation", fiir deren Verständnis aber zu beachten ist, dal? Puchta darunter eine „naturliche Repräsentation" versteht und den Juristen gerade keine Repräsentantenrolle zuschreibt, insofern sie wissenschaftliche Ansichten aufstellen und begriinden — so „Cjewohnheit.srecht“, Bd. 2, S. 20. Besonders eindrucksvoll hierzu Puchta, Gewohnheitsrecht, Bd. 2, S. 8 f.: ein Rechtssatz könne durch seine Anwendung befestigt werden; dal? er aber durch seine Anwendung erst entstehe, werde kein Verstand begreifen. Eine solche Annahme mache das Gewohnheitsrecht zu etwas Unverstandlichem. Puchta ging davon aus, dafi die Begriindung des Gewohnheitsrechts auf die Ubung „cine richtige Theorie des Gewohnheitsrechts und eine richtige praktische Behandlung desselben unmoglich mache" - so Puchta, Vorlesungen, Bd. 1, S. 25.

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