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Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Peter Landau 1. Einleitung 1884 äul^erte Bernhard Windscheid^ in seiner Leipziger Rektoratsrede den seither häufig zitierten und heute iiberwiegend abgelehnten Satz: „Die Gesetzgebung steht auf hoher Wane; sie beruht in zahlreichen Fällen auf ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwagungen oder einer Kombination dieser Erwägungen, welche nicht Sachen des Juristen als solchen sind.“ Dieser Satz ist so interpretiert worden, dafi Windscheid damit darauf bestanden babe, der Jurist miisse unpolitisch, wenn nicht gar dem praktischen Leben abgewandt sein;“ es wurde das 19. Jahrhundert als eine Zeit gesehen, die durch einen heute aufgegebenen Positivismus gekennzeichnet gewesen sei, in dessen Ära man Gesetz und Recht völlig identifiziert habe, von einer Liickenlosigkeit einer in Gesetzen ausgeformten Rechtsordnung ausgegangen sei und den Richter auf eine Rolle des Subsumierens unter gesetzliche Vorschriften festgelegt habe.^ Die Bindung und Unterordnung des Richters und auch der juristischen Wis- ' Bernhard Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Gesammelte Reden und Abhandlungen (ed. von Paul Oertmann), Leipzig 1904, S. 100-116, hier S. 112. Die Äuilerung Windscheids muR in ihrem Zusammenhang verstanden werden; sie soil die Aufgabe des Juristen bei der Gesetzgebung nur begrenzen und damit einen Freiraumfiir die politische Fntscheidung im Gesetzgebungsvorgang eroffnen. ’ In diesem Sinne etwa Erik Wolf, GroRe Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tubingen 1963, S. 616, der in diesem Satz einen Trennungsstrich zwischen rechtspolitischer Zweeksetzung und rechtswissenschaftlicher Forschung sieht; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 431 - allerdings mit dem differenzierenden Hinweis, daR Windscheid solche Erwägungen dem Gesetzgeber nicht untersagen wollte; ders., Griinder und Bewahrer, Göttingen 1959, S. 192 f., mit dem Urteil: „beispiellose Verengung des Begriffs vom Recht“, und „Verkummerung des Richters". Eine umfassende und iiberzeugende Kritik des tradierten Windscheidbildes bei Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, Frankfurt/ M. 1989 (=lus Commune, Sonderhefte: Studien zur Europaischen Rechtsgeschichte 38) passim. ’ Umfangreiche Angaben zu diesem herkömmlichen Bild des 19. Jahrhunderts als einer Zeit des Positivismus mit dem Bild vomRichter als „Subsumtionsautomaten“ bei Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986 (=Rechtsprechung, Materialien und Studien, Bd. 1), S. 1-11. Die grundlegende Untersuchung von Ogorek hat zum Ergebnis, daR der gebundene, logisch-mechanisch operierende Richter eine heutige Vorstellung ist, die dem Richterbild des 19. Jahrhunderts nicht entspreche; so u. a. a. a. O. S. 279.

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