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JURISTISCHERABSOLUTISMUS UND PRIVATRLCHT IM 19. JAHRHUNDERT Gliick fiir den Juristen, treffen zwei Umstände zu seinem Vorteil zusammen: die Veränderungen, die nicht stillhalten, und der selige Schlaf des Gesetzgebers. Neben dem geschriebenen Recht, alt und immer älter werdend, gibt es den Raum der täglichen Erfahrung, des gelebten Rechts: dieses ist das Reich der Freiheit des Juristen, wo er ohne Zwischenhändler und Bedingungen „la nature de chose“, „lanature de chose positive" befragen kann, wie er präzisiert, quasi um die Unklarheit, die der gleiche Terminus und das Konzept in den Seiten Adickes gehabt hatte, zu iiberwinden. Geny ist sich der unvermeidbaren Ungenauigkeit des Bezuges bewufit und besitzt die Ehrlichkeit, die geschärfte Qualifikation Windscheidts anzufiihren: „verschrieener Ausdruck"aber er sieht auch seine Fruchtbarkeit in seinem Wesen als stets und in jedem Falle ontologischen Bezug, aufierhalb der Fiktion und Kiinstlichkeit des gesetzlichen Rechts, aufierhalb der Mumifizierung des Gesetzbuchs, wo endlich der Interpret ein wirklicher Ausleger und nicht blo£ ein ausschlieBlich durch seine wissenschaftliche Methode gestärkter Exeget ist und er Freiheit und Verantwortung zugleich feststellen kann, die beide fiir die Konstruktion eines zukiinftigen Rechts notwendig sind. Was Geny am offiziellen Recht und der offiziellen Rechtswissenschaft abstöf?t, die einige Jahre zuvor vom Chorleiter der Kommentatoren Francois Laurent so gut personifiziert wurde, ist sein Simplizismus. Wenn etwas wiedergewonnen werden mul?, ist es die Komplexität des Rechts, seine Ausdehnung iiber Staat und Gesetze hinaus. Und an dieser Wiedergewinnung tritt das Wachstum der Juristen-Interpreten hervor, dieser wird das privilegierte Subjekt sein, das gerufen wird ummit der positiven Natur der Sache zu diskutieren und die perfekte Anpassung an die neuen Bediirfnisse zu garantieren. Auch auf italienischem Boden fiihlt sich die sensiblere Zivilistik von Riegeln und Schlössern der juristisch positiven Ordnung eingeengt und hat das Bediirfnis, die alte konzeptionelle Takelage, die nunmehr von dogmatischer Schwere ist, zu iiberpriifen. Wir sprechen gerne von diesen Kraften, weil sie auf^erhalb Italiens wenig bekannt sind, es aber imGegenteil verdienten, bekannt gemacht zu werden. In der römischen Antrittsrede Enrico Cimbalis'"* des Jahres 1881, die aus der Konzeption des Gesetzgebers als „organo immediato della coscienza popolare" geboren ist, erschien eine klare Ideenkraft: „e mestieri allora che la legge stessa subisca I’influenza e I’azione dell’ambiente modificato e di quelle medesime cangiate circostanze che, per virtu del suo ufficio, vien chiamata a regolare"'^; mit der daraus resultierenden Schlufifolgerung, dafi es „una evoluzione progressiva della legge"geben mufi und dal? ,,1’ufficio dell’interprete, B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektcnrechts, I B., § 23, Anmerkung la, Frankfurt a.M., Riitten u. Loening, 1906. ’■* Enrico Cimbali (1855—1887) war Professor fiir Zivilrecht an der Universität von Messina. Lo studio del diritto civile negli Stati moderni (1881), jetzt in E.C., Studi di dottrina e giurisprudenza civile, Lanciano, Carabba, 1889, S. 14. Ibidem, S. 31. Ibidem, S. 32. 45

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