PaoloGrossi 44 Man kann den hohen befreienden Wert von Genys Werk nicht verkennen, und der scharfe Verstand Saleilles traf ins Schwarze, als er im Vorwort der ersten Ausgabe ohne halbe Wahrheiten von einer „oeuvre de franchise" sprach, wo „frank“ einerseits bedeutet klar zu sprechen, aber auch sich von Doppeldeutigkeiten und den sie begleitenden MilSverständnissen zu befreien. Keine Ikonoklasmen — er ist ein positiver Jurist, der mit all seiner charakteristischen Gelassenheit spricht — vielmehr eine franke, unleidenschaftliche, entmythisierende Priifung, die alles hinterfragt, weder kiinstliche Idole noch einst verbotene Gebiete respektierend. Nur mit diesemwahrhaft freien Verhalten kann man das erste und am meisten angebetete dieser Idole im Gegenlicht betrachten, und zwar das Gesetz, das geschriebene, positive Recht, und man zögert nicht festzustellen, daft es lediglich „la révélation imparfaite versunkenen Kontinents (der auch versunken bleibt) darstellt, der das Recht ist, „ne peut étre tenue pour autre chose, qu’une information, tres limitée, du droit“d° Und die Dialektik zwischen „droit - loi écrite" ist konstant gegenwärtig, mal verdeckt, mal offen, um die Nervatur des gesamten Werkes darzustellen, eine Nervatur, die dessen innere Spannung klar erkennen läftt. Zwei rettende Erkenntnisse durchströmen die Reflektion Genys: daft das Gebiet des Rechts enormviel weiter als das der Gesetze ist und daft dieses letz- «9 : jenes enormen tere unfähig ist, das erstere abzudecken (in wenigen Jahren wird die „impuissance de la loi", dank der Bresche, die Geny geschlagen hat, die Ehre haben, einen Titel ganz fiir sich allein im Pamphlet eines intelligenten französischen „praticien" zu haben"); sowie daft die sozio-ökonomischen Veränderungen amEnde des 19. Jahrhunderts imGalopp laufen und daft sich gerade gegeniiber diesem Galopp „la législation proprement dite" als „manifestement impuissante ä suivre d’un pas égal et sur Pévolution incessante des necessités juridienthiillt. Wie fiir viele Juristen mit beiden Fiiften auf der Erde ist das « 12 ques Bewufttsein der sozialen Veränderungen der wahre Rettungsanker, weil es doch gerade die Veränderungen sind, die die Unfähigkeit des gesetzlichen Rechts sichtbar werden lassen. 1st es vielleicht an der Zeit, sich von dem hinderlichen, kodifizierten Geriist zu befreien? Der Realismus dieses einzigartigen Juristen ist sich bewuftt, sich den iibertriebenen Luxus von Rissen im positiven System nicht erlauben zu können, er weift, daft er stets mit dem „état social" rechnen muft, d. h. mit jenem Komplex von Ideen, Fakten und Kräften, die das Frankreich von 1899 kennzeichnen und der nicht allzuviele Demolitionen erlaubt hätte. Der Kodex muft respektiert werden, auch wenn er erklärterweise als „un fait accompli" erlebt wird und auch das Werk des Gesetzgebers muft respektiert werden. Zum ’ Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif, cit., Introduction, § 3. Méthode d’interprétation, cit., § 183. " J. Cruet, La vie du droit et 1’impuissance des lois. Paris, Flammarion, 1908 (ein Buch, das in der verbreiteten „Bibliothéque de philosophie scientifique“ erscheint). Méthode d’interprétation, cit., § 3.
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