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Reiner Schulze 198 das Augenmerk im Humanismus stärker auf das historisch Konkrete und auf das Individuelle richtete (“die Wissenschaft vomRecht besteht in der griindlichen Durchforschung und Kenntnis der Einzelheiten; die allgemeinen Begriffe und Grundsätze kann jeder Laie erfassen"’^), so blieb dock die Abstraktion mit Hilfe allgemeiner Begriffe und Prinzipien als (freilich geringer geschätztes) Erfordernis des Rechtsdenkens aufier Frage. Im Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts wurden schlieftlich die principia und principia generalia geradezu zum Fundament der Lehrgebäude.^"* An sie konnte sich in dreifacher Weise — rechtssystematisch, räumlich und zeitlich — der Anspruch der Allgemeinheit knupfen: Fiir eine Rechtsmaterie bildeten sie die gemeinsame Grundlage, aus der die Vielzahl einzelner Normen deduktiv entwickelt wurde; und ihre Geltung schien nicht durch politische Grenzen und Wandel der Verhältnisse beschränkt, sondern universell und zeitlos. Derartige abstrakt-allgemeine Darstellung von Rechtsinhalten und insbesondere die Ausrichtung an Prinzipien gehört — auch abgesehen von der spezifischen Ausformung und Uberhöhung durch die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts — zu den Denkmustern, die fiir die moderne Rechtswissenschaft auf dem europäischen Kontinent kennzeichnend geworden sind. Dies gilt indes — wie hier nur am Rande zu bemerken ist — keineswegs notwendig in gleicher Weise fiir jede Art des Rechtsdenkens, auch nicht fiir jede Rechtstradition der europäischen Geschichte. Vielmehr muB es eigener Untersuchung vorbehalten bleiben, ob sich nicht auch in dieser Hinsicht die Rechtswissenschaft des europäischen Kontinents und ihr „Civil Law“ von den herkömmlichen Denkweisen im Bereich des »Common Law“ unterscheiden.’^ Was im Bereich des Civil Law entscheidende gedankliche Voraussetzung fiir die Entfaltung juristischer Systeme und die Forderung nach ihrer gesetzUlrich Zasius in einem Brief an Johann Fichard, datiert nach 1530, zitiert nach Erik Wolf, Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1950, S. 19. Vgl. fiir andere mehr Going (Fn. 5), S. 71, S. 73; ders.. Die Europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet, in: lus Commune I (1967), S. 1 ff. (23); Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts. Eine Privatrechtsgeschichtliche Studie, in: ders., Ideengeschichte und Rechtsgeschichte. Gesammelte Schriften, Köln/Wien 1986, S. 633 ff. (652 ff., 662 ff.); ders.. Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, ebda., S. 822 ff. (828); ders., Naturrecht und Römisches Recht, ebda., S. 923 ff. (930); vgl. fiir die Menschenrechtsidee Marcel Thomann, Rechtsphilosophische und rechtsgeschichtliche Etappen der Idee der Menschenrechte im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gerichtslauben-Vorträge, Freiburger Festkolloquium zum 75. Geburtstag von Hans Thieme, herausgegeben von Karl Kroeschell, Sigmaringen 1983, S. 73 ff. Vgl. Helmut Coing/Knut Wolfgang Nörr (Hrsg.), Englische und kontinentale Rechtsgeschichte: ein Forschungsprojekt, Berlin 1985; Kramer (Fn. 4), S. 7, 32; Grofifeld/Bilda (Fn. 2), S. 427 mit weiteren Nachweisen, S. 429; Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, Historische Verbindungen zwischen droit, law und common law, in: ZEuP 1993, S. 4 ff., mit weiteren Nachweisen. Geoffrey Samuel, Der Einflufi des Civil Lawauf das englische Recht des 19. Jahrhunderts, in: Reiner Schulze, Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin voraussichtlich 1993 (imDruck).

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