140 Heinz Mohnhaupt kungen in der Rechtssprechung des Reichsgerichts zum römischen Recht - und auch in Abweichung von diesem — wurden oft mit Formulierungen wie „abweichendes Gewohnheitsrecht“, „allgemeine Praxis" und „allgemeiner deutscher Gerichtsgebrauch" begrundetd-’"* Begriindungen dieser Art belegen eine eigene Regelbildung des Gerichtes und zeigen ein neues selbstbewulstes Richterverständnis dieses höchsten Gerichtes im Vorfeld der Kodifikationsarbeiten zumBGB an. Uberblickt man die Rechtsprechungssammlungen des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, so fällt die immer wieder beschworene und geforderte Einheitlichkeit der Rechtsprechung als Zweck der Urteilspublikation auf.'^'’ Das ist besonders stark in der Zeit der politischen Diskussion'^^ umdie staatliche Einheit Deutschlands zu beobachten und vor allemfiir die Rechtsbereiche mit gesamtdeutscher Wirkung als Forderung formuliert. Dies betrifft besonders die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Handels- und Wechselrechts, fiir die die entsprechenden Handels- und Wechselgerichte eine vereinheitlichende Vorreiterrolle spielten. Das Liibecker Oberappellationsgericht kann in dieser Beziehung als hervorragendes Beispiel genannt werden.*^^ Seuffert nimmt 1847 bevorzugt solche Entscheidungen in seine Sammlungen auf, die „durch die grofiartige Entwicklung der Industrie und die Bediirfnisse des Credites" verursacht waren.'^^ Er kritisierte den „particularen Codicismus", der immer mehr nur eine „geringe Aussicht auf gemeinsame deutsche Gesetzgebung besorgen lasse. Solange der Ruf nach der „Einheit deutscher Gesetzgebungnoch nicht erfiillbar war, blieben die Gerichte auf Rechtswissenschaft und vor allem auf sich selbst verwiesen. Lieber keine Gesetze als unklare Gesetze zu haben, war “139 eine oft vertretene Ansicht, denn dem Richter bleibe dann doch „wenigstens der Ausweg . . ., sich nach allgemeinen Rechtsprincipien und dem gesunden Menschenverstande zu bemessen. «141 Es ist auffällig, wie die Gerichte und auch H. H. Seiler, Römisches deliktisches Schadensersatzrecht in der obergerichtlichen Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts, in: D. Medicus u. a. (ed.). Festschrift tiir Hermann Lange zum70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin Köln 1992, pp. 243-264 (262-264). Cf. die Publikationsmotive, z. B. nachgewiesen bei Mohnhaupt, Rechtsprechungssammlungen (Anm. 77), pp. 170, 180 s., 182, 194. Die Motive fiir eine ..Einheit der Rechtsprechung" können demgemäl? auch sehr stark von der politischen Auffassung des Betrachters geprägt sein; cf. fiir eine nationalsozialistisch orientierte Begriindung E. Warnholtz, Die Einheit der Rechtsprechung, jur. Diss. Hamburg, Hamburg 1937. Cf. die Ubersicht bei Mohnhaupt, Rechtsprechungssammlungen (Anm. 77), pp. 169-173. J. A. Seuffert (ed.), Archiv fiir Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten I, Miinchen 1847, p. VI. Wie Anm. 138. F. Noellner, Die deutschen Einheitsbestrebungen im Sinne nationaler Gesetzgebung und Rechtspflege, Leipzig 1857, pp. 212, 264; Going, Einleitung zu Staudingers Kommentar (Anm. 105), nr. 30. Kurzrock, Aphorismen (Anm. 89), p. 99.
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