Ri:chtskinhfit durch rechtsprechung? 139 ten Gewohnheitsrecht kam somit die „gleiche Kraft“ zu „wie die eines Gesetzes“.'^^ Im Gesamthaushalt der Rechtsquellen blieb jedoch auch die Entwicklung des regelbildenden richterlichen Gewohnheitsrechts von der Giite und vom Entwicklungsstand der Gesetzgebung abhängig: „In gleichem MalJe, wie dann die Gesetzgebung sich entwickelt, tritt das Gewohnheitsrecht in den Hintergrund . . Der aktuelle Regelungsbedarf durch eine vorgegebene einheitliche Normentschied mit iiber den Einsatz der Regelbildung durch Rechtsprechung. Je bedrängender das gesetzliche Regelungsdefizit war, desto gröfier war die Neigung, es durch unifizierende und generalisierende gerichtliche Spruchpraxis zu beseitigen. Dementsprechend konnten auch die Anforderungen an die Haufigkeit richterlicher Entscheidungen zur Bildung richterlichen Gewohnheitsrechts in den einzelnen rechtswissenschaftlichen Disziplinen schwanken. Das belegt sehr klar Thöl fur den dynamischen Bereich des Handelsrechts: “Ferner giebt es aber auch ein Recht der Praxis, indent ein Satz schon dadurch ein Rechtssatz wird, dal? er in einem einzigen richterlichen Urtheil angewandt worden ist. “130 Thöl beschränkt eine solche „Entstehungsart eines Rechtssatzes“, die er ausdriicklich nicht auf die gemeinrechtliche Lehre vom Gewohnheitsrecht stiitzt, auf zwei Fallbereiche: einmal auf Ealle, in denen der Richter „auf Billigkeit nach seinem Ermessen . . . angewiesen ist“, und zumancferen auf Fälle, die eine gleiche Behandlung erfordern.'-^* Das Gebot einer gleichen Entscheidungspraxis zielte auf die fiir den Handelsverkehr essentielle Bedingung der Rechtssicherheit in bezug auf ihre Rechtsregeln. Das Reichsgericht — 1879 zur Schaffung und Wahrung der Rechtseinheit gegriindet — scheute eine starke Selbstbindung im Sinne einer Anerkennung gewohnheitsrechtlicher Sätze.'^’ Die Anerkennung partikularer Gewohnheitsrechte durch das Reichsgericht hätte zudem die Arbeit abweichenden und revidierenden rechtsvereinheitlichenden Urteilens stark behindert und partikulare Rechtszersplitterung perpetuiert.'^^ Die beobachteten Entscheidungsschwanp. Ill; zum richterlichen Gewohnheitsrecht bei Windscheid cf. auch die grundlegende Arbeit von U. Falk, Fin Gelehrter wie Windscheid (lus Commune, Sonderhefte 38), Frankfurt a. M. 1989, pp. 49 (dort auch der Hinweis auf die zitierte Stelle), 191, 218. Windscheid, Lehrbuch (Anm. 126), p. 51. Windscheid, Lehrbuch (Anm. 126), p. 45. H. Thöl, Das Handelsrecht 1, 6. Auflage, Leipzig 1879, pp. 56 s. Wie Anm. 130. FI.-G. Mertens, Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, in: Archiv fiir die civilistische Praxis 174 (1974), pp. 333-380 (371); W. Wedemeyer, Das Reichsgericht und das gemeine Recht, in: Festschrift fur Max Pappenheim zum 50. Jahrestag seiner Doktorpromotion (Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft 32), Breslau 1931, pp. 173-189 (179-186). So die zutreffende Analyse bei Mertens, Untersuchungen (Anm. 132), p. 371. 130
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYyNDk=