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88 Peter Landau so besteht offenbar heute kein Konsens darin, inwiefern Richterrecht dem Kriterium eines wissenschaftlichen Rechts im Sinne der Theorie des 19. Jahrhunderts entsprechen miisse. Je nach der Entscheidung dieser Frage bestimmt sich aber die Rolle, die man nicht nur demRichter, sondern generell demJuristen in der Gesellschaft zumifit; denn Juristenausbildung ist in Deutschland nach wie vor auf das Ziel der Befähigung zumRichteramt ausgerichtet. Eine Konzeption, die das Beurteilungskriteriumdes Richtigen bei richterlicher Rechtsfortbildung nicht mehr anwendet, entzieht diese den Mal^stäben praktischer Vernunft. Sie steht damit auch in einemgewissen Gegensatz zur Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dal5 die schöpferische Rechtsfindung des Richters „nach den Mafistäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft erfolgen miisse. diesemzitierten Satz ist imiibrigen eine vorgelagerte Uberzeugung der Rechtsgemeinschaft ausgesprochen, die in der heutigen ausschliefilich an Gesetz und Richterrecht orientierten Rechtsquellenlehre iiberhaupt nicht beriicksichtigt ist. Denkt man von dieser Formel des Bundesverfassungsgerichts aus, so mul? man die Rechtsquellenlehre wohl zwingend um eine Schicht von Rechtsiiberzeugungen erweitern, die Puchta mit den Begriffen des Gewohnheitsrechts und des Volksgeistes zu bestimmen versuchte. Bei der Entwicklung dieser fundamentalen Struktur hat der Jurist keine exklusive Stimme, sondern es gibt insofern in einer auf Gleichheit beruhenden Gemeinschaft die von Peter Haberle beschworene „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“^^, mit der im Grunde nichts anderes als die Definitionsmacht hinsichtlich der fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen gemeint ist. Faktisch diirfte aber in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten der Jurist als der beruflich Rechtskundige nach wie vor einen Vorsprung in dem Diskurs fiber die allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen haben. Nichts anderes meinte Puchta, wenn er den Juristen „vorzugsweise“ das „Bewul^tsein“ von „Gewohnheitsrecht“ zuschrieb; es sollte damit gesichert sein, dal? die Juristen unabhängig von den durch Gesetzgebung geprägten Strukturen aufgrund praktischer Vernunft, nicht nur aufgrund eines Rechtsgefiihls oder eines Einblicks in Zwangsläufigkeiten der Evolution, den Beruf zur Beeinflussung von Rechtsiiberzeugungen haben mul?ten. Nur in der Karikatur der Jahrhundertwende erscheint der Jurist des 19. Jahrhunderts als „Subsumtionsautomat“; in Wahrheit gab es ein Verstandnis von relativer Freiheit und selbstverständllcher Bindung des Juristen, das auch in einemrechtstheoretischen Modell seinen Ausdruck land. In BVerfGE34, 269, 287 (Soraya-Beschlufi). Hierzu der grundlegende Aufsatz von Peter Haberle, Die offene Gesellschaft der Vertassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297-305; ferner ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozefi - ein Pluralismuskonzept, in: P. Haberle (Hrsg.), Verfassung als öffentlicher Prozel?, Berlin 1978 ( =Schriften z. öff. Recht Bd. 353), S. 121-152, hier S. 122-129.

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