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Verfassungsideale der Burgerlichen Revolution Von Professor MICHAEL STOLLEIS Johann Wolfgang Goethe-Universitat, Frankfurt am Main Verfassungen bilden heute die selbstverständliche Grundlage der öffentlichen Ordnung in den freiheitlichen Staaten der Welt. Sie konstituieren die Staatsgewait, begrunden ihre Legitimität, regeln die Balance der Staatsgewalten und der Staatsorgane, sie bilden den rechtlichen Mafistab fiir alles unter ihnen stehende Recht und sie geben durch generelle Normen die Ziele der Politik an. Verfassungen enthalten traditionell Kataloge von Menschenrechten und Biirgerrechten, manchmal auch von Biirgerpflichten, sie garantieren die menschenwiirdige freie Existenz des Einzelnen und den dazu nötigen Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte. Verfassungen verkörpern, in einem Wort, die Idee der von freien Biirgern selbstgeschaffenen Ordnung. Ihre Integrationswirkung ist hoch, so dafi man heute in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Hintergrund eines gebrochenen NationalbewuBtseins geradezu von „Verfassungspatriotismus“ spricht. Seit iiber 200 Jahren kreisen alle grundsätzlichen politischen Debatten um das magische Wort „Verfassung“. Dieses Wort hat die politische Phantasie vieler Generationen befliigelt. Der Wunsch nach einer Verfassung hat Revolutionen ausgelöst und Monarchien gestiirzt, und ebenso sind Revolutionen durch Schaffung von Verfassungen beendet worden. „Verfassung“ war das Synonym fiir „Recht“ und „Rechtsschutz“, fiir „Burgerrecht“ und „politische Mitwirkung“, fiir Frieden und Freiheit sowie umgekehrt fiir das Ende von Unordnung oder Despotismus. „Verfassung“ ist ein positiv klingendes, zentrales Wort der politischen Semantik. Es hat mehrere deskriptive und normative Facetten. Wenn ich iiber »Verfassungsideale der burgerlichen Revolution" sprechen soli, dann meine ich damit die wichtigsten Leitbilder, die den politisch aktiven Personen und Gruppen von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorschwebten, Leitbilder, die man auf demWeg iiber eine Verfassung zu erreichen hoffte. Bevor ich versuche, den historischen Weg durch die Jahrzehnte von 1750 bis 1850 zu skizzieren, möchte ich meinen Ausgangspunkt in der Gegenwart fixieren. Schon mehrfach ist die Beobachtung ausgesprochen worden, vielleicht gehe das Zeitalter der Verfassungen langsamseinemEnde entgegen. Was im 18. und 19. Jahrhundert geboren und mit groBen Schwierigkeiten durchgesetzt wurde, ist heute sicherer Besitz — oder scheint es jedenfalls zu sein. Jede politi-

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