38 Nachdem zunächst die Appellationen den Hauptanteil der Prozesse ausmachten,*^^ nahmgegen Mitte des 16. Jahrhunderts die Zahl der Landfriedensbruchprozesse zu,'^^ woran die Religionsprozesse einen besonders hohen Anteil hatten. Dies waren Klagen gegen die gewaltsame Durchsetzung des neuen Kultus und gegen Saekularisierung von Kirchengiitern. Die grol^e Bedeutung des Reichskammergerichts fiir die Kohaerenz des Reichsverbandes zeigte sich gerade auf diesem Gebiet. Die schon seit dem Hochmittelalter als königs- und reichsfern zu bezeichnenden Gebiete Nord- und Nordostdeutschlands wurden liber solche Landfriedensprozesse wieder an das Reich und seine Institutionen herangefiihrt.*’"' In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigte sich dies darin, daB nunmehr auch Appellationen aus diesen Regionen an das Reichskammergericht gelangten.’^^ Seit dem 17. Jahrhundert stellten Kläger aus dem Norden und Nordosten des Reiches sogar die Hauptmasse.’^^ Eine letzte Beobachtung beweist die besondere Bedeutung des Gerichtes fiir den insgesamt friedlich verlaufenden Verfassungswandel in Deutschland während der friihen Neuzeit: ZumEnde des 16. Jahrhunderts nahmen die Streitigkeiten von Reichsständen untereinander um staatlich-hoheitliche Rechtspositionen zu,'^^ womit das Reichskammergericht zu einem zentralen Steuerungsinstrument fiir das den damaligen Territorialisierungsvorgängen innewohnende Konfliktpotential wurde. In einem weiteren Punkt unterschied sich das Reichskammergericht entscheidend von den entsprechenden Zentralgerichten in England und Paris, die ganz selbstverständlich eine feste Residenz in den Orten hatte, an denen der König Hof hielt. Ein fiir die ständische Reformpartei besonders wichtiger Punkt war es gewesen, daB das Reichskammergericht gerade nicht am Ort des Hoflagers arbeiten durfte. Es begann 1495 seine Tätigkeit in Frankfurt am Main, muBte dann im Laufe der kommenden zwei Jahrzehnte mehrfach den Tätigkeitsort wechseln, erhielt schlieBlich 1527 in Speyer eine feste Residenz. Als die Franzosen imZuge des Pfälzer Erbfolgekrieges Speyer besetzten, wich das Reichskammergericht aus und land schliefilich 1693 in Wetzlar eine neue feste Residenz bis zur Auflösung imJahre 1806. Die Trennung vom kaiserlichen Hof hatte wichtige Konsequenzen. Auf der einen Seite blieb das Reichskammergericht vor den Einfliissen des Hofsystems bewahrt. Andererseits be128 Vgl- Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- undsozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich herausgegeben von B. Diestelkamp u.a. Bd. 17/ I, 1985, S. 162 f. Ranieri (Anm. 122) S. 165 f. '-■* Ranieri (Anm. 122) S. 165 f. Ranieri (Anm. 122) S. 176. Ranieri (Anm. 122) S. 180. Ranieri (Anm. 122) S. 202 f., 226 f. Ranieri (Anm. 122) S. 207.
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