89 Ruckblickend erscheint die europäische „Verfassungsbewegung“ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie ein unaufhaltsamer Strom, dem letztlich keine Gegenkraft gewachsen war. Natiirlich haben dies die Regierungen damals nicht so gesehen; anders ist ihr heftiger Widerstand mit alien Mitteln des Pollzei- und Strafrechts, der Zensur, der Beamtendisziplinierung und der Verteidigung von Standesprivilegien nicht zu erklären. Die herrschenden Schichten, wenn sie sich bedroht fiihlen, sind »strukturell blind", wie die Geschichte oft bewiesen hat und täglich noch beweist. Der riickblickende Betrachter sieht dagegen, daft sich die »Verfassungsideale der biirgerlichen Revolution" so tief in das allgemeine politische BewuBtsein eingesenkt hatten, dab sie sich zu einem harten Faktumverdichtet hatten. Zur ,,Verfassung" gab es im 19. Jahrhundert keine wirkliche Alternative. Was diese Bewegung antrieb, war die in alien fiihrenden politischen Köpfen der Zeit herrschende Vorstellung, ein geordnetes, zeitgemäbes Staatswesen bediirfe eines sakrosankten rechtlichen Rahmens mit ganz bestimmten verfassungspolitischen Mindeststandards. Die herrschenden Vorstellungen wurden auf diese Weise Realität, und sie schufen neue Realität. Allerdings gelang die Verwandlung der »Verfassungsideale" jeweils nur in den entsprechenden Schwacheperioden des gegnerischen Lagers. So war der iiberwältigende Erfolg der Französischen Revolution nur möglich, weil sich das Ancien Régime als reformunfähig erwies und seine Legitimation verbraucht hatte. Auch in Deutschland stieb der »aufgeklärte Absolutismus" mit seinen bedeutenden Reformleistungen auf immer stärkere Widerstände, nachdem der Druck durch Napoleon verschwunden war: einerseits traten die alten Reformgegner wieder auf, andererseits wollte auch das liberale Biirgertum nicht mehr in dieser Weise bevormundet werden. Es suchte politische Mitsprache, die aber der »aufgeklärte Absolutismus" gerade verweigerte. Die Regierungen des Vormärz, die sich an Österreichs und Preubens Politik orientierten, verfiigten fiber die Machtmittel von Polizei und Zensur, das oppositionelle Biirgertumwar äuberlich ohnmächtig, aber es beherrschte die öffentliche Meinung. Der deutsche »Vormärz" ist deshalb keineswegs idyllisches »Biedermeier", sondern eine Epoche scharfer innenpolitischer Kämpfe und bitterer Gefiihle. So harmonisch wie die Schaffung des norwegischen Grundgesetzes in den fiinf Wochen zwischen dem 10. April und dem 14. Mai 1814 in Eidsvoll“° sind die Verfassungsberatungen nur selten verlaufen. Auch dab man sich am Ende die Hände reichte und sich zurief »Einig und treu, bis das Dovre-Gebirge zusammenstiirzt!" ist wohl ein einmaliger Fall. Meistens haben sich die Monarchen und der Adel heftig gegen Zugeständmsse gewehrt und versucht, bei nächster Gelegenheit wieder Terrain zu gewinnen. Die preubischen KonservaG. Ch. v.Unruh, Eidsvoll. Das Tioru’egische Grundgesetz von 1814 ah konstitutionelles Modell., Kiel 1977 (=Berichte und Beiträge der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek).
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