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82 Die europäische Welt umetwa 1750 war agrarisch. Mehr als 90 %der Bevölkerung lebte auf dem Land und vomLand. Es gab nur wenige Fabriken (Manufakturen) und schon gar keine Industrie auEerhalb des Bergbaus und der Tuchproduktion. Die Entfernungen waren grofi und wurden durch die Kapazitäten der Pferdekraft eingeteilt. Gewifi war es ein grofier Unterschied, ob der eine als freier Bauer in Schweden oder als Leibeigener in Östeuropa, der andere als grundzinspflichtiger Bauer in Siiddeutschland oder als Pachter einer Staatsdomäne in Frankreich lebte. Die Gemeinsamkeiten der Lebensweise waren stärker als solche Unterschiede. Das Feudalsystem existierte noch, das Abgabensystemwar nicht nur driickend, es war ungerecht; die ständischen Schranken waren uniiberwindlich. Die Gesellschaft war geschichtet: Ganz unten befanden sich die Leibeigenen, die Tagelöhner, die Dorf- und Landarmen, dann die abhängigen kleinen Bauern, dann die Handwerker und Kleinbiirger. Dariiber lag eine diinne Schicht des intellektuellen, aber materiell armen Burgertums (Privaterzieher, Lehrer, Pfarrer, Professoren), die sog. „gebildeten Stände“, eng verbunden mit dem Beamtentum und dem (ebenfalls materiell knappen) Offiziersstand. Uber ihnen finden sich, imspäten 18. Jahrhundert stärker werdend, die Vertreter von Flandel und Gewerbe, die groften Kaufleute, Fabrikunternehmer, in Frankreich die Steuereinnehmer und Bankiers. Alles dies, zusammengenommen, war der „Dritte Stand", die Mehrheit der Nation. Demgegeniiber waren die beiden anderen Stände, Adel und Geistlichkeit, eine verschwindende Minderheit, in Frankreich von 1789 z.B. rd. 200.000 Personen gegen 25 Millionen des Dritten Standes.^ Die europäische Welt des Ancien Régime war auch insofern relativ einheitlich, als die freie Entfaltung der Mehrheit der Befölkerung fast iiberall durch rechtliche Schranken begrenzt war. Das tägliche Leben war bestimmt durch die Standesschranken, ausgedriickt in Gruft- und Anredeformen, Kleidung, Sitzordnung und vielen oft nur atmosphärischen Kleinigkeiten. Der Zugang zu fast alien Berufen war mit grof5en Hindernissen verstellt. Arbeitsplatz und Wohnort konnten nicht ohne weiteres verlassen werden. Die Ziinfte achteten ängstlich darauf, „geschlossene Gesellschaften" zu bleiben. Leibeigene und Soldaten, Knechte und Mägde bedurften der Erlaubnis zur Eheschlieftung. Es gab Wohnverbote und Berufsverbote fiir Juden, von den religiösen und gesellschaftlichen Diffamierungen ganz abgesehen. Fiir Studenten gab es keine Freiheit der Universitätswahl, sondern landesherrliche Gebote, an der Heimatuniversität zu studieren. Grundstiicke waren wegen ihrer vielfältigen Bindungen und Funktionen nicht frei verkäuflich, weder fur den grundzinspflichtigen Bauern noch fiir den an Fideikommisse gebundenen Adel. Bestimmte Produktionszweige, besonders von Luxusgiitern, waren staatlich monopolisiert. Das Marktprinzip funktionierte nur teilweise. Aller Aufklärung zumTrotz waren auch die religiös-konfessionellen Tren- ^ Emmanuel Joseph Sieves, „Was ist der Dritte Stand?", hrsgg. v. Otto Dann, Essen 1988.

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