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81 „custos utriusque tabulae” sei, den vor allemdie protestantischen Fiirsten gern gebrauchten, um ihre strafrechtliche Aufgabe zu kennzeichnen. Eine Schwierigkeit bestand jedoch darin, dafi der Dekalog als Zusammenfassung der beiden Gebote der Liebe eine maximalistische Ethik oder Richtungsethik darstellte. Es war praktisch unmöglich fiir den Menschen, diese Gebote insgesamt imSinne positiver Tugend zu erfiillen. Das lag an den antropologischen Folgen des Siindenfalls, an der Einwirkung der Erbsiinde auf die menschliche Natur/ Der Mensch war nur imstande, sich der Erfiillung des Liebesgebots anzunahern (Richtungsethik). Er konnte niemals den Anspruch erheben, seinen Anforderungen bis ins Letzte zu geniigen. Das betonte vor allemdie protestantische Kirche. Hier hatte der Fiirst eine öffentlichrechtliche, politische Aufgabe. Zwar sollte jeder einzelne Christ nach Tugend und moralischer Vollkommenheit um ihrer selbst widen streben, aber man hielt eine Ermunterung und Anleitung der Menschen zu solchem Handeln durch Schulen, Zensoren der Sittlichkeit, verschiedene Formen materieller Belohnungen bei verdienstlichem Verhalten dennoch fur notwendig, - wegen der verderbten Natur des Menschen. Ohne diese Lenkung zur Tugend von Seiten der Obrigkeit wären viele Menschen nicht dazu zu bewegen, aus eigener Kraft in der erwiinschten, gerechten Art zu handeln. Das Handeln des Fiirsten - indirekt durch Institutionen und direkt durch Gnadebezeugungen in Form der Verleihung von Ämtern, Grundbesitz und dergleichen - war in das normatividealistische System, das wir als Tugendlehre bezeichnen, eingefiigt. In Schweden gehen diese Gedanken aus einem Gutachten des mächtigen ,,geheimen Ausschusses” vomJahre 1723 sehr deutlich hervor.^ Diese Schrift handelt von einer Anzahl innenpolitischer Mafinahmen, welche die Verhältnisse im Lande nach den Belastungen des langen Krieges verbessern sollte. Das Land sei gliicklich, sagt der Ausschufi, in dem ,,jeder Einwohner selbst seinen Wiinschen ein Gesetz gemäl5 der Billigkeit und Gottes Wort vorschreiben wollte” und damit ,,sich aus innerem Antrieb (als willig erweisen wiirde), seinen Nachsten wie sich selbst und das allgemeine Wohl mehr als sein eigenes zu lieben”. Hier äufiert also der Ausschufi den Wunsch, dafi der Mensch, der den Widen Gottes zu erfiillen strebt, das Liebesgebot unabhängig von Ermunterung oder Zwang, nur aus eigenem Antrieb altruistisch erfiillen möge. Was man in der Gesellschaft bekampfen miisse, seien ,,Eigenliebe und Hoffart”, sie seien der „Ursprung” alles Bösen in der Gesellschaft. Damit kniipft der Ausschul^ deutlich an die mittelalterliche Lehre von den sieben Todsiinden an, unter denen gerade die Hoffart, superbia, die Wurzel alles Bösen ist. Heilmittel fur die Siinde der Hoffart sind „Zuchtigung und Unterweisung” von Kindheit an und eine ,,Sinnesänderung zu wahrer Gottesfurcht”. Auch diese Gedanken ■' Siehe Figur. ^ Schwedische Reichstagsakten (SRA). Serie 2, Teil I, Nr. 247, S. 312 f.

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