80 verständlich wird, wenn wir diese anthropologischen und theologischen Voraussetzungen beachten. In diesemSystemwar die Tugend ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsdenkens. Eine zentrale Stellung kam hier dem Dekalog, den beiden Gesetzestafeln Moses zu, sie waren die ethische Norm, die in der Gesellschaft herrschen sollte (Richtungsethik). Die Gesetze des Strafrechts dagegen vertraten eine realistischere Ethik. Seine Gebote nahmen grofie Riicksicht darauf, wie der Mensch zufolge des Siindenfalls tatsächlich beschaffen war. Die Aufgaben des Fursten im öffentlichen Recht und im Strafrecht werden von diesen beiden ethischen Systemen bestimmt: teils durch Verbote und Sanktionen des Strafrechts, teils durch das im Dekalog enthaltenen Ideen-System. Diese Systeme waren Teile eines Gemeinwesens, in dem die Religion eine reale politische Angelegenheit und die Politik imWesen theozentrisch war. Seit friihchristlicher Zeit nimmt der Dekalog einen zentralen Platz in der christlichen Tugendlehre ein. Er liegt, neben den drei theologischen Tugenden und den vier Kardinaltugenden, den mittelalterlichen Schriften iiber die Beichte zugrunde. Hier diente der Dekalog oft als Norm, nach der der Beichtende sein Handeln zu priifen hatte. Die Schuldfrage wurde also in direktemZusammenhang mit den zehn Geboten entschieden. Ebenso lag der Dekalog der Katechese im katholischen Mittelalter sowie in den protestantischen Ländern nach der Reformation zugrunde. Edmund von Canterbury, der bedeutende Werke zur Beichte verfafit hat, sagt, dal? die zehn Gebote uns lehren, ,,was wir tun sollen, während die sieben Tugenden uns lehren, wie wir es tun sollen”.' Und da seit dem 13. Jahrhundert jeder Christ zur Beichte verpflichtet war, kam demDekalog eine iiberragende Bedeutung zu. Bei der Einteilung der Tugenden und Siinden stellte man diese einander oft paarweise gegeniiber, wie ja auch schon im Dekalog diese paarweise Gegeniiberstellung von Siinde und Tugend vorkam. ImAnschlul? an jedes einzelne, gewöhnlich negativ — als Verbot - formulierte Gebot stand ein positiv formuliertes Gebot - als Vorschrift. Als Ganzes gesehen brachten die beiden Gesetzestafeln damit den Inhalt des Gebots der Liebe in positiver, gebietender Form- als Tugendlehre - zumAusdruck. So verstand sie Thomas von Aquino, ebenso wie Jahrhunderte später ein protestantischer Denker wie Jonas Magni, im friihen 17. Jahrhundert.^ Es war die alien geläufige Ansicht. Rechtlich gesehen bedeutet dies, dal? der Dekalog, die Zusammenfassung der beiden Gebote der Liebe zu Gott, beziehungsweise zu den Mitmenschen, der Richtpunkt aller menschlichen Gesetzgebung war. Dieser Gedankengang liegt also dem Ausdruck zugrunde, dal? der Fiirst der Wächter der beiden Tafeln ■ Kilström, B. I. Den kateketiska undervisningen i Sverige under medeltiden. Uppsala 1958, S. 237 (iibersichtlich); Bloomfield, M. W. The Seven Deadly Sins. Michigan 1952. ^ Hirschherger, J. Geschichte der Philosophic, I Teil. Altertum und Mittelalter. 10. Aufl. Freihurg 1976, S. 518; Buisson, L. Potestas und Caritas. Köln-Graz 1958, S. 22 ff; Magni, J. Disp. ex Praeceptis Primae Tahulae Decalogi addens, Upsaliae 1624; ders. Disp. ex Praeceptis Secundae Tahulae decalogi addens, Upsaliae 1624.
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