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12 werden/ Sie entstehen dort, wo soziale Notlagen nicht durch vorhandene Verfassungsformen aufgefangen werden (Unfriede, Seefahrt, Vereinzelung der Gemeindepriester, dann vor allem die Situation der Handeltreibenden in einer aristokratisch-bäuerlichen Agrargesellschaft). Lujo Brentano nannte dies mit einer einprägsamen Formulierung ,,Verhältnisse der Desorganisation”.® Die Gilde setzt dem entgegen die emotionale Bindung ähnlich der Blutsverwandtschaft (Confraternitas), Rituale sozialer Nähe (Gemeinsames Mahl und Trunk, Fest) und religiöse Vergemeinschaftung, die auf beidem baut (Gottesdienst, Totenkult). Die Gilde griindet sich aul^erdemauf demgemeinsamen Eid (conjuratio), dem verbindlichsten religiös-rechtlichen Akt, den die Zeit iiberhaupt kennt.’ Religiös bedeutet er Einsatz des eigenen Seelenheils, aber auch irdischen Glucks durch bedingte Selbstverfluchung, rechtlich ist er durch obrigkeitliche, kirchliche und kollektive Strafen sanktioniert. Alle diese Mittel der Konstituierung und Bindung der Gilde sind insgesamt als Formen einer archaischen Gesellschaft dem heutigen Menschen schwer zugänglich. Soziale Normen mit Rechtscharakter spielen also in diesem Prozel? eine Rolle und entwikkeln sich auf demWeg zur Stadtkommune zu einemElement gröfierer Bedeutung und ausgeprägter, entwickelterer Rationalität. Deren Qualität und deren Beziehungen und Verflechtungen zum „Sozialen” wie auch zum ,,Mentalen” kann aus all diesen Griinden nicht einfach vom modernen Rechtsbegriff her bestimmt werden, sondern mufi innerhalb des Forschungsprozesses selber Gegenstand der Erforschung bleiben. Damit steht fest: Der Begriff „Recht” selbst kann nicht als eine Kategorie, deren man sich begrifflich sicher ist, verwendet werden. Vielmehr befindet sich ,,Recht” noch in einer Einheit mit dem Religiösen wie mit engsten sozialen Bindungen, die erst langsam seit dem Fiochmittelalter durch einen Prozefi der Ausdifferenzierung gelöst wird. ^ Der neueste Stand ist zusammengefafit vor allem in; Herbert Jankuhn u.a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und friihgeschichtlicher Zeit, Teil 1, historische und rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Friihgeschichte der Gilde (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen) Göttingen 1981, dort bes.: Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, S. 284 ff.; Ruth Schmidt-Wiegand, Gilde und Zunft, die Bezeichnung fiir Handwerksgenossenschaften im Mittelalter; (Vorträge und Forschungen Bd. XXIX), Sigmaringen 1985, dort vor allem Ruth Schmidt-Wiegand, Die Bezeichnungen Zunft und Gilde in ihremhistorischen und wortgeographischen Zusammenhang, S. 31 ff.; Franz Irsigler, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, S. 53 ff. Otto Gerhard Oexle, Conjuratio und Gilde im Friihen Mittelalter, S. 51 ff. * Lujo Brentano, Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, 1871, S. XII, zitiert nach Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit mit Anm. 7, S. 294. ’ Vgl. A. Erler/G. Dilcher, Art. Eid in HRG Bd. 1, Sp. 861 ff.; G. Dilcher Art. conjuratio, HRGBd. l,Sp. 631 ff. Diese Kategorie wird hier im Sinne der modernen Systemtheorie verwandt. Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Hamburg 1972, und ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt a.M 1981.

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