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153 stanz fiir neue Einsichten zu schaffen (nach der seit der Aufklärung beliebten literarischen Vorlage: Ein ,,Wilder” wird in die Zivilisation geworfen und lehrt uns mit seinen Augen unsere Umwelt neu zu sehen).^^ Statt derartiger Verfremdung von Vertrautemstellt sich fiir unseren Forschungsbereich die entgegengesetzte Aufgabe: Die kulturelle Entfremdung ist historisch vorgegeben, und es sind Verständnismöglichkeiten iiber diese Distanz hinweg (oder anders gesagt: ,,Horizonterweiterungen” iiber die unmittelbare Erfahrung unseres - räumlich und zeitlich verstandenen Kulturkreises hinaus) zu suchen. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe können wir einerseits nur von jenem Kreis von Denkmodellen und Erklarungsmustern ausgehen, der auf Grund unserer kulturellen Erfahrung unserer Vorstellungskraft zugänglich ist, und mtissen uns andererseits auf die Denkweisen eines ganz anderen Kulturzusammenhanges soweit wie möglich einlassen - das bekannte Problemhistorischen Verstehens.^"* Bei der tastenden Suche nach dem ,,Ståndpunkt” der vergangenen Zeit - hier: der germanischen Zeit in Hinblick auf das „Recht” - kann neben anderen Ansätzen der Auseinandersetzung mit ethnologischer Forschung von dem soeben entwickelten Ausgangspunkt her eine Hilfsfunktion zukommen: Die Ergebnisse dieser Forschung sind uns gewissermafien im wissenschaftlichen Arsenal unserer Zeit unmittelbar zugänglich und fiihren doch hin zu den Denkweisen ganz andersartiger Kultur. Um Mifiverstandmssen vorzubeugen: Diese ethnologisch erforschte Kultur ist auch stets eine andere als die historisch zu erforschende, und keinerlei evolutionistische oder kulturanthropologische „Gesetzmäfiigkeit” kann die „Anwendbarkeit” ethnologischer Forschungsresultate auf historische Gegenstände begrtinden.^^ Aber möglicherweise sind Kulturen im Forschungsfeld der Ethnologie unter verschiedenen Aspekten der uns historisch befassenden Kultur vergleichhar — eher vergleichbar jedenfalls als unsere gegenwärtige der historischen Kultur. Unter dieser — imEinzelfall zu priifenden — Hypothese komparativer Forschung liegt in der Auseinandersetzung mit ethnologischen Arbeiten fiir den Rechtshistoriker immerhin die Chance eines Erkenntnisgewinns im Hinblick auf seinen historischen Gegenstand. Vgl. zu dieser Literatur H. Nanmann, Der 'X'ilde und der edle Heide, in: Festgabe f. G. Ehrismann, 1925; Art. Wilde, Der Edle, in; E. Franzel, Motive der Weltliteratur, 2. Aufl. 1980, S. 793. - Dieser Ansatz einer erkenntnisfördernden Vertremdung fasziniert - ungeachtet des weiterreichenden komparativ-evolutionistischen Konzepts - auch in Wesels Juristischer Weltkunde (Anm. 2) und begegnet beispielsweise in demvon Raulffhrs^. Band (Anm. 4), S. 45, schon imTitel des Beitrags von N. Z. Davis, Die Möglichkeiten der Vergangenheit. Geschichte und Ethnologic; ncue Blicke auf vertraute Landschaften (zuerst englisch: The Possibilities of the Past, in: Journal of Interdisciplinary Elistory XII, 2, 1981, S. 267 ff.). *'■' Zur hermeneutischen Problematik in der Rechtsgeschichte neben der in Anm. 55 angefiihrten Lit. nunmehr neue Ansätze mit Bezug insbes. auf Gurjcwitsch und Kaulbach bei C. Peterson, Wertsvstem und Handlungstheonc, in: Quaderm Fiorentini Nr. 22, Storia sociale e dimensione giuridica, 1985, S. 359 ff. So zu recht iiingst auch Davis (Anm. 63), S. 49.

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