120 anklingende Erörterung der haarfeinen Linie zwischen Werturteil und Erkenntnisurteil hat in der wahrhaft vielschichtigen und inzwischen auch im Ausland vielerörterten Historikerdebatte des Jahres 1986 merkwiirdigerweise keine Rolle gespielt, obwohl in diesem Beitrag jene Grundsatzfrage angesprochen war, die alien Erörterungen hätte zugrunde liegen sollen. Stattdessen war festzustellen, dafi jene Reflexion gar nicht zustandekam, welche die Unterscheidung und Verkniipfung von Werturteilen einerseits, wissenschaftlichen Tatsachenfeststellungen und Tatsachenurteilen andererseits bedacht hätte. Stattdessen wurden einerseits dezidierte Werturteile geäul^ert, die sich umTatsachen zumTeil recht wenig kiimmerten, - von der Anerkennung unbequemer Tatsachen ganz zu schweigen (und es gibt immer und fiir jede Auffassung unbequeme Tatsachen). Andererseits wurden Tatsachenurteile vorgetragen, ohne dafi die (immer, so auch hier) den Tatsachenurteilen zugrundeliegenden Werturteile und Wertstandpunkte wirklich offengelegt und explizieit worden wären. ,,Die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozefi fliel^end, nichts bleibend”, - so hat W. Dilthey 1903 das Grundthema des modernen Historismus benannt,'°^ und sein Denken kreiste immer wieder um das Problem des Historismus und bedachte seine Konsequenz, metaphorisch ausgedriickt: ,,das Messer des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat”.'°^ Dieses Gefiihl des unendlichen ,Fliel?ens’, der „moderne Heraklitismus” (G. Simmel),'°’ hat die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft, nach den Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis, nach der Objektivität, nach der Vermittlung von Werturteil und Erkenntnisurteil, von ,Wissenschaft’ und ,Leben’ zu einer Grundfrage gemacht, die vor allem in )ener Zeit der Krise der historischen Erkenntnis in den Jahren von 1880 bis 1930 aufs intensivste erörtert wurde."° Die Antworten auf das Problem sind noch immer die gleichen. Man kann, wie Kierkegaard, im ,,Sprung” dem unendlichen Flufi des Werdens sich zu entziehen, im,,Sprung” einen „archimedischen Punkt” zu erreichen suchen,*" wie immer er im einzelnen auch beschaffen sein mag. Man kann auch, Nietzsche und Dilthey folgend, davon ausgehen, dal^ das Leben der Erkenntnis vorausgeht und deshalb auch ihr Fundament sein miisse. Man kann, wie E. Troeltsch oder wie Max W. Diithky, Rede zum 70. Geburtstag (1903), in: dcrs.. Die geistige Well. Einleitung in die Philosophie des Lebens (Gesammelte Schriften 5), 1924, S. 9. W. Duthfv, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie (Gesammelte Schriften 8), 1931, S. 232. G. Si.MMFL, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916), Nachdruck 1983, S. 134, und die weiteren Äulierungen fiber die ,,Unendlichkeit von Entstehung und Vernichtung”, von ,,Werden und Untergehen”. Dazu J. A. Schmoh Gfn. Eisfn'afrth, Simmel und Rodin, m: DERS., Epochengrenzen und Kontinuitat. Studien zur S. oben Abschnitt I. Krac.\ufr (wie Anm. 68), S. 202. 107 108 Kunstgeschichte, 1985, S. 289 ff., bes. S. 298 ff. 110
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