114 erkennt sich diese Art von Wissenschaft, weil sie weifi, dafi sie keine adäquate Wiedergabe der Wirklichkeit zu geben vermag. Zugleich aber darf sich diese Wissenschaft in ihrer Unwissenheit eine wissende nennen: einerseits weil sie ihre Grenze erkennt, andererseits weil sie sich in dem ihr zugänglichen unendlichen Bereich endlichen und regionalen Wissens systematisch bewegt und voranarbeitet. ImZuge dieser Reflexion iiber die Grenzen der Wissenschaft taucht deshalb auch der fiir Max Weber zentrale Gedanke der Mehrheit der Bereiche auf, zuerst wohl im Nachweis Wilhelm von Ockhams, daft Theologie keine Wissenschaft sei, und in seiner Preisgabe der Metaphysik und der Abbildlehre,^^ später abermals in Pascals Reflexion iiber die Ordnungen des ,Esprit de géométrie’ und des ,Esprit de finesse’, die ihrer Grundstruktur nach dementsprechen, was Max Weber als ,Wissenschaft’ und ,Leben’ definiert und unterschieden hat/^ Max Webers Thema im Bereich der Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis ist die polare Spannung zwischen Wissenschaft und Leben, wobei auf die Unterscheidung wie auf die Verkniipfung der beiden Bereiche geachtet wird. Die Definition von Wissenschaft und Leben imSinne dieser polaren Spannung erlaubt es ihm, die von Nietzsche 1874 gebieterisch aufgeworfene Frage in einer Weise zu beantworten, deren grofie Vorziige heute vielleicht noch viel stärker als zu Max Webers Zeit empfunden werden und deren Gehalt gleichwohl noch nicht ausgeschöpft ist. Denn dieser Ansatz Webers unterwirft weder die Wissenschaft dem Leben noch das Leben den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Unterordnung der Wissenschaft unter das Leben war Nietzsches Forderung. Sie ist aber auch impliziert in Diltheys Reflexion zur Kritik der historischen Vernunft und iiber das Problem des Historismus und Relativismus. Denn fiir Dilthey war wie fiir Nietzsche das Leben selbst das Fundament der Erkenntnis, das jeglicher Erkenntnis vorausliege: ,,Leben ist das erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das Zweite und beziehen sich nur auf das Leben”.Die Unterordnung des Lebens unter die Wissenschaft hingegen war das Ziel von Troeltschs Kultursynthese, insofern diese zwar einerseits ihre Maftstäbe aus den Lebenszusammenhängen bezog, andererseits aber auch dem Leben wissenschaftlich begriindete Wertsetzungen vorlegte, umdamit die Folgen des Historismus, nämlich den Relativismus und den Verlust aller ,,Wert-Selbstverständlichkeiten” zu iiberwinden. Der Forderung nach der Unterordnung des Lebens unter die Erkenntnisse der Wissenschaft begegnet man aber auch sonst und noch heute iiberall dort, wo der Anspruch auf absolute, objektive Erkenntnis behauptet wird, so etwa im „marxistisch-leninistischen Historismus”, der nach W. Kiittler und G. Dazu Rombach, Bd. 1, S. 78 ff. und R. Imb.ach (Hg.), Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, 1984, S. 168 ff. und 180 ff. Vgl. Ro.mbach, Bd. 2, S. 111 ff. und 147 ff. Dilthfy (wie Anm. 12), S. 148.
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