99 wohl der Begriff ,Historismus’ in dieser Schrift nicht vorkommt. Die Pointe des Problems liegt fiir Nietzsche darin, daB die Historie Wissenschaft geworden ist. Daraus ergibt sich fiir ihn als zentrales Thema die Gegeniiberstellung von ,Wissenschaft’ und ,Leben’, formuliert in der Frage, ob ,,das Erkennen liber das Leben herrschen” solle, oder nicht vielmehr „das Leben fiber das Erkennen, fiber die Wissenschaft”. Nietzsche beantwortet seine Frage dahingehend, dafi das Leben fiber die Wissenschaft herrschen mu£; denn „das Erkennen setzt das Leben voraus”.’^ Daraus ergibt sich dann die Forderung, daB das Verhältnis der Historie zumLeben sich verändern muB, da seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Historie Wissenschaft geworden sei. Eben dadurch aber sei sie zu einem ,,Schaden”, zu einem „Gebreste”, einem „Mangel” geworden, zu einem ,,verzehrenden historischen Fieber”, einer Krankheit also.'"* Diese Krankheit habe den Charakter einer Bedrohung des Lebens. In der Historie, die Wissenschaft geworden ist, sah Nietzsche eine Art von ,,Lebens-Abschlul^ und Abrechnung ffir die Menschheit”.'^ Daffir nannte er drei Grfinde. Erstens schleppt Geschichte als Wissenschaft unaufhörlich neue Erkenntnisse und Fakten herbei, die sie jedoch nicht mehr in einen Zusammenhang bringen kann. Dieses „ungebändigte Waken” des „historischen Sinnes” aber untergrabe ,,das Lebendige” und bringe es „zu Fall”; denn es erzeuge eine Stimmung der Ironie, des Zynismus, die schliefilich zur Lähmung der Lebenskräfte ffihre.'^ Deshalb sei Geschichte als Wissenschaft gefährlich. Eine zweite Gefahr liege in dem Anspruch dieser Wissenschaft auf Objektivität.Aber diese angebliche Objektivitat sei doch in Wahrheit nichts als eine „ewige Subjektlosigkeit”, eine „Wahrheit, bei der nichts herauskommt”. Die Historiker, diese ,,furchterliche Spezies”, seien nichts als ,,kalte Dämonen der Erkenntnis”, die ihr Genfige finden im passiven Abzeichnen, Abkonterfeien und Abfotografieren.'^ Dieses seinem Anspruch nach objektive Wissen aber habe in Wirklichkeit keine Relevanz, es sei eine reine Erkenntnis um ihrer selbst willen. Der Anspruch der Objektivität gehe ins Leere und darin sei Geschichte als Wissenschaft recht eigentlich ffirchterlich und lächerlich zugleich. Die Gefährlichkeit der Historie als Wissenschaft aber liegt nach Nietzsche vor allem in einem dritten Moment, darin nämlich, dafi die geschichtliche Erkenntnis Unendlichkeits-Charakter hat. Die Geschichtswissenschaft hat Unendlichkeits-Charakter, weil sie alles imFlusse des Werdens und Wachsens und also auch des Vergehens, weil sie alles als Bestandteil geschichtlicher Entwicklung zeigt. Geschichte als Wissenschaft ist, mit Nietzsches treffenden Worten, die „Wissenschaft des universalen Werdens”, d.h. sie betrachtet Nietzsche (wie Anm. 10), S. 326 t. Ebd. S. 242. Ebd. S. 253. Ebd. S. 268, 275, 291 1. Dazu vor allemder 6. Abschnitt, S. 281 ft. Ebd. S. 280 und S. 283 ff.
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