SKRIFTER UTGIVNA AV INSTITUTET FÖR RÄTTSHISTORISK FORSKNING GRUNDAT AV GUSTAV OCH CARIN OLIN
SKRIFTER UTGIVNA AV INSTITUTET FÖR RÄTTSHISTORISK FORSKNING GRUNDAT AV GUSTAV OCH CARIN OLIN SERIEN II • • RATTSHISTORISKA STUDIER FEMTONDE BANDET A.-B. NORDISKA BOKHANDELN, STOCKHOLM 1 DISTRIBUTION
Rechtsgesch ichte und Theoretische Dimension Forschungsbeiträge eines rechtshistorischen Seminars in StockholmimNovember 1986 LUND1990
Redaktion: Claes Peterson ISBN 91-85190-38-1 ISSN 0534-2724 Tryck: Bloms Boktryckeri AB Lund 1990 Den på titelbladet och omslaget avbildade medaljen över Johan Stiernhöök är slagen av Svenska Akademien 1837. Den är graverad av C. M. Mellgren.
Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines rechtshistorischen Seminars an der juristischen Fakultät der Universität Stockholm imNovember 1986. Das Thema des Seminars war, die theoretischen Möglichkeiten der rechtshistorischen Forschung zu diskutieren. In diesemZusammenhang möchte ich der Edvard Cassel-Stiftung der juristischen Fakultät der Universität Stockholm danken, die dutch einen grofiziigigen finanziellen Beitrag die Durchfiihrung des Seminars ermöglicht hat. Ich richte auch einen grofien Dank an das Institut fiir rechtsgeschichtliche Forschung (Institutet för rättshistorisk forskning grundat av Gustav och Carin Olin), das sich entschlossen hat, diese Arbeit in seine Schriftenreihe aufzunehmen. StockholmimMärz 1990 Claes Peterson
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Einhaltsverzeichnis Björne, Lars Die Rezeption deutscher Rechtssysteme in der nordischen Rechtswissenschaft als Forschungsproblem- Einige Fragestellungen 1 Dilcher, Gerhard Zur Rolle des Rechts bei stadtbiirgerlichen Gruppenbildungen imMittelalter 9 Grossi, Paolo Das Eigentumund die Eigentiimer in der Werkstatt des Rechtshistorikers 26 Lindberg, Bo H. Einige Gesichtspunkte zum Einflufi des Gebots der christlichen Nächstenliebe auf das Strafrecht des 17. und 18. Jahrhunderts in Alteuropa 79 Nygren, Rolf Die Veränderung des Rechts und ihre sozialgeschichtliche Voraussetzung 87 Oexle, Otto Gerhard Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitatsforderung der Wissenschaft imZeichen des Historismus 96 Peterson, Claes Rechtsgeschichte als akademische Disziplin in Schweden: Universitätspolitische und wissenschaftstheoretische Reflexionen 122 Scholz, Johannes-Michael Rechtshistorie als historische Kultursoziologie 131 Schulze, Reiner Der Zugang zum Recht fremder Kulturen: Germanistik und Rechtsethnologic 138
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Die Rezeption deutscher Rechtssysteme in der nordischen Rechtswissenschaft als Forschungsproblem— Einige Fragestellungen Lars Björne 1. Die Rezeption der deutschen Rechtssystematik in der nordischen Rechtswissenschaft kann als ein Teil der europäischen Verbindungen und des Einflusses fremden Rechts angesehen werden; deshalb möchte ich mit einer kurzen Ubersicht der Rezeption fremden, vor allemdeutsch-römischen Rechts imNorden anfangen.' Bekanntlich sind schon die mittelalterlichen Gesetze vom römischen und insbesondere kanonischen Recht beeinfluBt; jedoch erst in der Neuzeit findet eine tiefgehende und bewuf^te Rezeption fremden Rechts statt. Diese Rezeption fing im 17. Jahrhundert in Schweden-Finnland an; die Friihbliite der schwedischen Rechtswissenschaft (Loccenius, Råiamb, Kloot; in Finnland Wexionius) war ohne eine weitgehende Verwendung römischen Rechts und der Literatur des usus modernus pandectarum nicht möglich. Wie Stig Jägerskiöld in seinen Untersuchungen in den 60er Jahren zeigte, war auch die Rechtsprechung, jedenfalls imSvea Hofgericht, vomrömischen Recht stark beeinflufit. In manchen Fallen wurde dann diese Praxis ins Gesetzbuch von 1734 aufgenommen.' In Dänemark-Norwegen basierten dagegen die Kodifikationen, Danske Lov von 1683 und Norske Lov von 1687, eher auf älterem, einheimischem Recht.^ Die spärliche Literatur des 17. Jahrhunderts ist ganz römischrechtlich und Hinweise auf das einheimische Recht fehlen völlig.'^ Die Kodifikationen sind ' Der Gegenstand der Rezeption wird in der nordisehen rechtshistorisehen Literatiir als ,,deutsch-römisches Recht” bezeichnet; siehe z. B. luul, Stig, ForeLrsninger over Hovedlinier i Europ.risk Retsudvikling, Kobenhavn 1970, s: Jägerskiöld, Stig, Studier rörande receptionen av främmande rätt i Sverige under den vngre landslagens tid. Lund 1963, S. 5. ’ SieheJägerskiöld, Handelsbalkens utländska källor. Lund 1967, passim. ' Zu diesen Kodifikauonen, siehe Danske og Norske Lov i 300 år, red. af Ditlev Tamm, Kobcnhavn 1983; /;<;</, Kodifikation eller Kompilation? Christian V’s Danske Lov paa baggrund af .rldre ret, Kobenhavn 1954. ■* Siehe näher Jargensen, Poul Jobs., Retsundervisnmgen og Retsvidenskaben ved Kobenhavns Universitet 1537-1736. Lorordnmgen af 10. Lebruar 1736, in: Lestskrift i Anledning af Tohundrede Aars Dagen for Indforelsen af Juridisk Lksamen ved Kobenhavns Universitet, Kjobenhavn 1936, S. 24 ff.
2 schon im 18. Jahrhundert deutlich veraltet und liickenhaft; daraus folgt, dal5 in der jetzt entstehenden Literatur des einheimischen Rechts sowohl die Systematik als auch Rechtssätze in der deutschrömischen Literatur (Struve, Heineccius) oft verwendet werden.^ Laut einer Verordnung von 1736 sind auch das römische Recht und das Naturrecht Lehrfächer imhöheren juristischen Staatsexamen.^ Sowohl in Schweden-Finnland als auch in Dänemark-Norwegen wird im 18. Jahrhundert das fremde Recht gerne mit einer naturrechtlichen Argumentation verschleiert.^ Der deutsche Einflufi auf die nordische Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist als „eine Bekehrung zum Germanismus” bezeichnet worden.* Der Gegenstand dieser Rezeption war wieder das römische Recht deutscher Prägung, d.h. das Pandektenrecht; auBerdem wurde die rechtswissenschaftliche Methode der Begriffsjurisprudenz fast enthusiastisch angenommen. Die deutsche Rechtswissenschaft des friihen 19. Jahrhunderts, z.B. die historische Schule, war keineswegs unbekannt geblieben;^ die Bekehrung war vor allem eine Ablehnung empirischer, realistischer Strömungen in der skandinavischen Rechtswissenschaft in der ersten Hälfte des Jahrhunderts (0rsted), die allerdings in Norwegen offen deutschfeindliche Ziige enthielten (Schweigaard).’° In diesem Aufsatz werde ich nur die Rezeption im späten 19. Jahrhundert besprechen. Eine zweite Einschrankung liegt darin, daB ich nur der fremden Rechtswissenschaft in der nordischen rechtswissenschaftlichen Literatur erörtern kann; auch eine fremde Rechtsprechung oder das positive Recht kann Gegenstand einer Rezeption sein, und das fremde Recht kann ja auch in die Rechtsprechung oder Gesetzgebung aufgenommen werden. 2. Trotz der m.E. berechtigten Kritik Wieackers an der Suche nach einer kausalen Ursache einer Rezeption " mufi wohl neben einer Beschreibung der geschichtlichen Vorgänge auch ein Versuch einer Erklarung gemacht werden. Die etwas zugespitzte Formulierung des finnischen Rechtshistorikers Heikki Ylikangas zeigt einen nicht seltenen Drang nach einer Erklarung eines Rezep- ^ Dahl, Frantz, Hovedpunkter af den danske Retsvidenskabs Historie, in: Festskrift i Anledning af Tohundrede Aars Dagen for Indforelsen af Jundisk Eksamen ved Kobenhavns Universitet, Kjobenhavn 1936, S. 138; Nielsen, Theger, Studier over xldre dansk Formueretspraksis, Kobenhavn 1951, S. 19; Tamm, Dttlev, Fra ,,Lovkyndighed” til ,,Retsvidenskab”. Studier over betydningen af fremmed ret for Anders Sandoe 0rsteds privatretlige forfatterskab, Kobenhavn 1976, S. 48; siehe auch Björne, Nordische Rechtssysteme, Ebelsbach am Main 1987, S. 162 ff. Jorgensen (Note 4), S. 101 f. ^ Nielsen (Note 5), S. 21 f.; Björne (Note 5), passim. * Siehe z. B. Sandvik, Gudmund, Fire liner i yngre norsk rettshistorie, in: Utvalde emne frå norsk rettshistorie, Oslo-Bergen-Tromso 1981, S. 194. Zur Kritik des Begriffes ,,Bekehrung zum Germanismus”, siehe Björne (Note 5), S. 57 ff. ’ Siehe naher Den historiska skolan och Lund, Lund 1982, S. 25 ff. und S. 53 ff. Björne (Note 5), S. 59. " Wieacker, Franz, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Gottingen 1967, S. 143 f. den EinfluB
3 tionsvorgangs; neue Gedanken und Rechtsregeln oder Rechtsinstitute seien keine Seuchen, die sich zwangsmä(5ig von Land zu Land verbreitend’ Ylikangas selbst vertritt ein (quasi)materialistisches Geschichtsbild: neue Gedanken seien nur Ausdriicke des Machtstrebens einer Gruppe oder Klasse; nur solche strukturellen Erklärungen haben einen wissenschaftlichen Wert. Die Suche nach dem letzten Grund einer Rezeption mufi natiirlich nicht materialistisch sein; nach den klassischen Erklärungsmodellen sei die Ursache einer Rezeption entweder im Bedarf fremder Rechtsregeln oder in der Autorität einer fremden Rechtsordnung zu suchen.'^ Die Verwendung fremden Rechts in der rechtswissenschaftlichen Literatur kann als ein Sönderfall einer Rezeption bezeichnet werden. In der nordischen Rechtswissenschaft vermied man im allgemeinen direkte Hinweise auf fremde Rechtsregeln; solche Hinweise waren ja den Gerichten gesetzlich untersagt (z.B. in Schweden und Finnland Kap. 24 §3 des prozefirechtlichen Abschnittes imGesetzbuch von 1734). Andererseits betonte man gerne, daB die Rechtswissenschaft wie alle Wissenschaft iiberhaupt naturgemäfi international sei. Der finnische Zivilrechtler Robert Montgomery behauptete, es sei sogar eine Pflicht, die Errungenschaften der ausländischen Rechtswissenschaft zu beriicksichtigen.'”* Es ist klar, dafi die Aufnahme einer fremden Systematik und einer fremden rechtswissenschaftlichen Methode leicht zur Ubernahme auch materiellen Rechts fiihrte. Es kann erwähnt werden, daft auch nach dem Verlassen einer offen naturrechtlichen Argumentation im 19. Jahrhundert sich die Aufnahme fremden positiven Rechts begrunden liefi. Man behauptete, es gebe einen gemeinsamen Kern in den verschiedenen Rechtsordnungen; als Begriindung wies man auf die gemeinsame Geschichte der europäischen Völker, auf das Vorhandensein allgemeiner, unveränderlicher Rechtsbegriffe oder die Natur des Menschen hin. Diese Argumente kommen auch in der deutschen Rechtswissenschaft häufig vor; so wurde z.B. von Jhering die Methode, das allgemein menschliche vom Vergänglichen imrömischen Recht zu scheiden, empfohlen.'^ Man kann sagen, dafi die Rezeption als die Begriindungen derselben galt.'^ Die Bedingungen und Ursachen einer Rezeption können hier nicht näher erörtert werden. Fest steht jedenfalls, wie der dänische Rechtswissenschaftler Thoger Nielsen 1951 behauptete, dafi eine allgemeine Theorie einer Rezeption Yltkangas, Heikki, Varför förändras rätten, Juva 1983, S. 236. ” Siehe Wieacker (Note 11), S. 143 ff. Montgomery, Robert, Handbok i Finlands allmänna privaträtt, 1, Helsingfors 1889-1895, Montgomery (1834-1898) war Professor 1870-1882, er wurde 1882 Prokurator, 1886 Präsident des Appellationsgerichts Vaasa und 1887 Mitglied des obersten Gerichtshofs. Siehe vor allem Wilhelm, Walter, Das Recht im römischen Recht, in; Jherings Erbe. Göttinger Symposion zur 150. Wiederkehr des Geburtstags von Rudolph von Jhering, hrsg. von Franz Wieacker und Christian Wollschläger, Göttingen 1970, S. 228 ff. Siehe näher Björne (Note 5), S. 60 ff.
4 fremden Rechts nicht möglich sei, jedenfalls nicht in der Beziehung, daB man daraus SchluBfolgerungen ziehen könne; höchstens kann eine Theorie zu einer näheren Analyse fiihrend^ 3. Die Rezeption deutsch-römischen Rechts in den skandinavischen Ländern ist als eine geschichtliche Tatsache allgemein anerkannt; schon die Autoren im 18. Jahrhundert haben diesen EinfluB offen gestanden. Insoweit enthalten die UntersuchungenJägerskiölds nichts Neues; sie sind wohl in erster Linie gegen einige nationalistisch gesinnte Rechtshistoriker des späten 19. und friihen 20. Jahrhunderts gerichtet, die zwar den fremden Einflufi in der Literatur bestätigten, jedoch aber behaupteten, z.B. das Gesetzbuch von 1734 sei ein völlig nationales Erzeugnis.'* Nach Montgomery sei der EinfluB des römischen Rechts im 17. Jahrhundert auf die Rechtswissenschaft beschränkt gewesen,'^ obwohl er zugab, daf5 das römische Recht auch in einigen Gesetzen jener Zeit spiirbar sei. Diese Rezeption sei jedoch schon vor dem Anfang der Gesetzesarbeit in 1686 iiberwunden worden,’° und das Gesetzbuch von 1734 stehe in einemorganischen Zusammenhang mit den mittelalterlichen Gesetzen.’' Das friihere Verleugnen der Rezeption hing wohl damit zusammen, dafi man diese Rezeption an sich unerwiinscht fand. Heutzutage kann man aber die Frage, ob die Rezeption ein positives Ereignis oder ein nationales Unheil war, kaum relevant finden. In der neuen norwegischen Geschichtsforschung wird jedoch lebhaft iiber die Bedeutung Anton Martin Schweigaards gestritten. Die Historiker sind sich einig dariiber, dall wegen der Stellungnahme Schweigaards die Bedeutung der deutschen Philosophie und Rechtswissenschaft des friihen 19. Jahrhunderts in Norwegen verhältnismäBig gering blieb; man streitet aber um die Bewertung des Einflusses Schweigaards. Heutige Anhänger des Naturrechts bewerten ihn ganz negativ (z.B. Gunnar Skirbekk), andere Autoren (z.B. Gudmund Sandvik) sehen in Schweigaard einen Vorläufer des skandinavischen Realismus dieses Jahrhunderts. Auch bei einer Untersuchung der Entwicklung der Rechtssystematik in der nordischen Rechtswissenschaft mufi die Rezeption als eine Tatsache angenommen werden; es scheint deshalb angemessen vor allem zu untersuchen, welche fremden Systemtypen und welche systematischen Grundgedanken angenommen worden sind. Aulserdem mul5 ein Versuch gemacht werden zu erklären, warumdie Rezeption fremder Rechtssysteme oft so oberflächlich war. In der nordischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts wurden neue Dispositionen (z.B. das Hugo-Heisesche Pandektensystem), neue Begriffe Nielsen (Note 5), S. 38. SieheJägerskiölä (Note 1), S. 25 ft. Montgomery, Om bolagskontraktet i 1734 ars lag, Helsingfors 1870, S. 11 und 70; ders. (Note 14), S. 206. Montgomery (Note 19), S. 70. Montgomery (Note 14), S. 205 f. ■’ Siehe näher Björne (Note 5), S. 75 Note 139.
5 (Strafrecht statt Kriminalrecht) und neue Einteilungen (die veränderte Einteilung Privatrecht - öffentliches Recht) ohne weiteres und meistens auch ohne Begriindung angenommen. Bemerkenswert ist, dafi die in der deutschen Rechtswissenschaft haufigen Vorstellungen von einem wissenschaftlichen, „richtigen” Rechtssystem, z.B. einer deduktiven Begriffspyramide oder einem „inneren”, metaphysischen imRecht selbst vorhandenen Systemkaumein Gegenstand der Rezeption wurde. In der rechtswissenschaftlichen Literatur findet man recht selten Begrtindungen eines wissenschaftlichen Rechtssystems (Bornemann und Goos in Dänemark, Hagerup in Norwegen, Montgomery und Wrede in Finnland). Dies war nicht nur von einem nordischen Widerwillen gegen „die Theoriesucht der Deutschen und ihrer Neigung zum Grundsätzlichen” (Thomas Nipperdey) abhängig, sondern die Systemmetaphysik wurde deshalb abgelehnt, weil sie in den nordischen Staaten keine politische Funktion hatte; z.B. war niemand auf den Gedanken gekommen, eine Einschränkung der Gesetzgebungsgewalt imBereich des Privatrechts zu behaupten.^^ 4. Ein gutes Beispiel einer wählerischen Rezeption und deren Ursachen kann man im Einleitungsaufsatz Francis Hagerups „Nogle Ord omden nyere Retsvidenskabs Karakter” (Einige Worte fiber den Charakter der neueren Rechtswissenschaft) finden; der Aufsatz wurde in der neuen gesamtnordischen Zeitschrift Tidsskrift for Retsvidenskab (TfR) 1888 veröffentlicht. Hagerup war ein Rechtswissenschaftler und Politiker, der als norwegischer Premierminister bei der Unionsauflösung imJahre 1905 seinen politischen Tod fand.^'* Als Rechtswissenschaftler ist Hagerup als ein Befiirworter der Bekehrung zum Germanismus und der Begriffsjurisprudenz bekannt; der oben erwahnte Aufsatz mufi vor allem als eine Auseinandersetzung mit der in Norwegenvorherrschenden Schweigaardschen analytisch-deskriptiven Methode angesehen werden. Hagerups Aufsatz ist imwesentlichen eine Diskussion mit deutschen Autoren, vor allem Windscheid und Jhering. Hagerup befiirwortet eine konstruktive Methode, die ,,den eigenen inneren Zusammenhang des Rechtsstoffes” darlegen soli; man miisse die Rechtsregeln in ihrem begriffsmäfiigen und systematischen Zusammenhang betrachten.^^ Der Rechtswissenschaftler mfisse die Rechtssatze in Rechtsbegriffe umwandeln und aus diesen ein System bilden; dies habe schon Savigny, besonders aber Jhering gefordert.^^ Das Rechtssystemwerde mit Hilfe einer induktiven Methode aufgebaut. Die konstruktive Methode könne ihre Materie nur vom positiven Rechtsstoff holen; allgemeine Begriffskategorien können nicht a priori deduziert werden, sondern Siehe näher Björne (Note 5), S. 258 ft. Hagerup (1853-1921) wurde Doktor iuris 1885 und war Professor 1887-1906. Er war mehrmals Mitglied der Regierung, zuletzt Premierminister 1903—1905. Nach der Auflösung der Union verliefi Hagerup Norwegen; er war Botschaftcr in Kopenhagen 1906-1916 und danach in Stockholm. E/ijger«/7, TfR 1888, S. 19. Hagerup, TiK 1888,5.21.
6 sie miissen durch eine empirische Induktion gefunden werden.^^ Die Konstruktion miisse also auf einer empirischen Grundlage basieren; ein Hauptfehler der fruheren konstruktiven Methode (auch Jherings) liege darin, daft man immer fragte, ob sich die Rechtsregeln und Rechtsinstitute konstruieren lieften, nicht ob eine Regel niitzlich war.“^ Fiir Hagerup, wie fiir Jhering, ist das Systemnicht nur eine Darstellungsordnung; ein systematischer Fehler könne schwerwiegende Folgen haben.^^ Hagerup weist auch auf Jherings „Stammtafel der Begriffe” hin,^° und wie Jhering, verwendet er gerne Vergleiche mit der Chemie und Zoologie und spricht vom Rechtsalphabet.^' Hagerup behauptet weiter wie Jhering, daft die Klassifikation der Begriffe die Ubersicht des Rechtsstoffes erleichtere.^’ Auch in Hagerups Darstellung schimmert die Vorstellung von iibernationalen und unveränderlichen Begriffen durch. Trotzdem gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den AnsichtenJherings und Hagerups. WährendJhering das Rechtssystem vor allem als eine Begriindung der Produktion neuer Rechtssätze verwendet, kann Hagerup einer produktiven Funktion der konstruktiven Methode nicht zustimmen. Vielmehr sei ein weiterer Hauptfehler der deutschen konstruktiven Methode der Glaube u.a. Jherings an die rechtserzeugende Kraft der Begriffsdeduktionen; dies sei nur der Irrtumdes Naturrechts in neuer Auflage.^^ Hagerup ist eindeutig ein Rechtspositivist und er zitiert Brinz: „Man kann nichts vom Recht aufterhalb des Rechts wissen”.^"* Auch die neue dänische Rechtswissenschaft - Hagerup meint wahrscheinlich u.a. Goos und Aagesen - habe sich geirrt, weil man glaube, aus allgemeinen Prinzipien, wie dem Gesellschaftsprinzip, neue Rechtssätze deduzieren zu können.^^ Die Giiltigkeit eines Rechtssatzes sei nie nur von seiner Begriffsmäftigkeit oder -widrigkeit abhängig; eine Konstruktion könne zwar zur berechtigten Kritik eines Gesetzes fiihren, jedoch nie zu seiner Beseitigung.^^ Wie Windscheid behauptet Hagerup, die Aufgabe der Konstruktion der Begriffe sei die Sicherheit der Rechtsanwendung.^^ Obwohl Hagerup deutlich mit Jhering sympatisiert, sind seine Vorstellungen denjenigen Windscheids näher. Die Methode des jungenJhering ohne Systemmetaphysik und ohne Behauptung einer produktiven Funktion Hagerup, TfR 1888, S. 27. Hagerup, TfR 1888, S. 30 f. ’’ Hagerup, TfR 1888, S. 39. Hagerup, TfR 1888, S. 38. TfR 1888, S. 23, 26 and 41. //dger«p, TfR 1888, S. 41. Hagerup, TfR 1888, S. 33. Hagerup, TfR 1888, S. 20. Das Zitat ist wahrscheinlich nicht richtig, weil Hagerup Brinz in norwegischer Ubersetzung ohne Quellenangabe zitiert. Hagerup, TfR 1888, S. 19 f. Hagerup, TfR 1888, S. 33 f. Hagerup, TiK 1888, S. 42 f.
7 der Rechtswissenschaft ist gerade das, was man in Windscheids Werken finden kann.^* Die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts waren eine stiirmische Zeit imnorwegischen politischen Leben; imJahre 1884 wurde in offener Auseinandersetzung mit der einheimischen Biirokratie und demschwedischen König der Parlamentarismus eingefiihrt. Die konservativen Juristen versuchten, die drohende Demokratie einzudämmen; aus jener Zeit stammt die Lehre vomRecht des Obersten Gerichtshofes, die Verfassungsmäfiigkeit neuer Gesetze zu iiberprufen.^’ Dies hat den norwegischen Historiker Jens Arup Seip veranlafit, u.a. die Vorstellung des konservativen Hagerup von den unveränderlichen Begriffen als eine politische Aussage zu interpretieren; sie sei ein Versuch, die Autonomie der Rechtswissenschaft und der Biirokratie gegen den Parlamentarismus zu schiitzen.'’^ Diese Interpretation entspricht der von Seip im allgemeinen verwendeten Methode, die treffend als eine Hermeneutik des Verdachtes bezeichnet worden ist.'*' Diese Interpretation ist neuerlich auf Widerstand gestoBen: Nach Rune Slagstad iibe Seip einen politischen Reduktionismus aus; der Aufsatz Hagerups sei eher intern rechtswissenschaftlich zu interpretieren.'*^ Die weitläufige Argumentation Slagstads kann hier nicht näher besprochen werden; nach seiner Meinung beriicksichtigt Seip jedoch nicht die spezifisch rechtswissenschaftliche Problemstellung bei Hagerup. In Finnland vertrat Robert Montgomery schon 1870 ähnliche Gedanken. Die Systematisierung des Rechts sei eine wichtige, echt wissenschaftliche Aufgabe der Rechtswissenschaft, die eine empirische Methode verwende; es gebe auch ein iibernationales, unveränderliches Recht, das von der Natur des Menschen abhängig sei.'*^ Auch Montgomery wies auf Jhering hin; er war aber ein Liberaler, und der Parlamentarismus war in Finnland, das als ein autonomes Groftfiirstentum ein Teil des russischen Kaiserreiches war, schon als Gedanke unmöglich. Obwohl z.B. die Vorstellung von unveränderlichen Rechtsbegriffen ihrer Natur nach bewahrend ist und in Deutschland oft eine konservative Siehe Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach amMain 1984, S. 233 f. Siehe Slagstad, Rune, Det möderne gjennombrudd i rettstenkningen, in: Nytt Norsk Tidsskrift (NNT) 1985, S. 56 ff., der gegen diese vonJens Arup Seip (Tanke og handling i norsk historie, Oslo 1968, S. 118 ff. und Utsikt over Norges historie, II, Oslo 1981, S. 230) vorgefiihrte Theorie polemisiert. Slagstad (NNT 1985, S. 56 und Note 40) kann jedoch nachweisen, dafi der Grunder der Lehre vomPriifungsrecht des Obersten Gerichtshofes, T. H. Aschehoug, diese Lehre schon in seinen Vorlesungen iiber Staatsrecht in den 60er Jahren vertrat. 5e/>//(Note39), S. 227. ■" Slagstad, NNT 1985, S. 57. S/agsfad, NNT 1985, S. 62. Siehe näher Montgomery, Inträdesföredrag (1871), in: Suomalaista oikeustiedettä Caloniuksesta Zittingiin (Finnische Rechtswissenschaft von Calonius zu Zitting), I, hrsg. von Lars Björne, Turku 1981, S. 25 ff. 2
8 Funktion hatte (Laband), deuten die ähnlichen Stellungnahmen Hagerups und Montgomerys darauf hin, dafi es sich um eine interne rechtswissenschaftliche Frage handelte. 5. Die Interpretationsversuche Seips und Slagstads sind Beispiele von zwei Erklärungsmodellen, die bei einer Analyse rechtswissenschaftlicher Doktrinen häufig verwendet werden. Erstens wird oft behauptet, die eigentliche Ursache auch einer rechtswissenschaftlichen Stellungnahme sei nur in der politischen Uberzeugung des Autors zu finden. Dies ist die Methode Seips. Er schreibt selbst, allerdings vor allem wenn es um politische Doktrinen geht: ,,Es fehlt selten an Prinzipien. Sie gedeihen aber so gut mit den politischen Realitäten zusammen. Suche zuerst, was man zu verbergen versucht, dann wird auch alles andere klar”.'*^ Ylikangas vertritt eine ähnliche Methode: juristische Lehren seien nur Ausdriicke des Machtstrebens der Gruppe, zu der der Autor gehöre.'*^ Es ist klar, dal? die Wirkungsgeschichte und eine Untersuchung eventueller geistiger Abhängigkeiten fiir viele Anhänger dieser Methode nur einen beschränkten Wert haben; neue Gedanken seien blol? Waffen im ewigen Kampf umdie Macht; man nehme sie wo man sie finden könne. Das zweite, von Slagstad vertretene Erklärungsmodell ist eher traditionell ,,geistesgeschichtlich”. Es gehe vor allem darum, den geistigen, philosophischen Hintergrund zu erklären. Die Argumentation des Autors soil ernst genommen werden, und man sucht eine Erklärung innerhalb der Wissenschaft. Bekanntlich kann man diese Erklärungsmodelle auch in der deutschen rechtshistorischen Literatur finden. Ich mul? mich hier damit begniigen, auf ein einziges Beispiel hinzuweisen: die Interpretationsversuche der neuen Einteilung Privatrecht — öffentliches Recht in der Rechtswissenschaft des späten 18. und friihen 19. Jahrhunderts. Ich selbst habe in meinem Buch ,,Deutsche Rechtssysteme” oft eine politische Interpretation vorgezogen, ohne jedoch zu behaupten, dal? dies immer vorzuziehen sei.*^^ Eine allgemeine Regel der Erklärung kann nicht aufgestellt werden; oft ist zwar eine politische Analyse vorzuziehen, weil ein Rechtswissenschaftler nicht in einemgesellschaftlichen Vakuum arbeitet; es ist jedoch oft völlig verfehlt, Argumente als blol?e Fassade verschleierter Bestrebungen abzutun. 46 Seip, Tanke (Note 39), S. 14. Ylikangas (Note 12), S. 236. Siehe Björne, (Note 38), S. 113 tf. Siehe Björne (Note 38), S. 121 ff. und 278 t.
Zur Rolle des Rechts bei stadtbiirgerlichen Gruppenbildungen imMittelalter Gerhard Dilcher I. Theoretische Grundlagen und Ziele Die Ebene dieses Vortrages soli nicht imBereich einer Geschichtstheorie oder gar einer dieser zugrundeliegenden Erkenntnistheorie liegen. Sie soli vielmehr das Verhaltnis theoretisch entwickelter Modelle und methodischer Vorgehenskonkreten Arbeit des Rechtshistorikers an einem bestimmten Thema weisen zur darstellen. Zuvor soil jedoch festgehalten werden, daft auch hierftir natiirlich gewisse Prämissen auf der zuerst genannten Ebene vorhanden sind. Sie sollen wenigstens in einem Satz angesprochen werden. Ich gehe insoweit davon aus, dafi der Erkenntnisvorgang des Historikers nicht auf ein von dem Forschungsvorgang unabhängiges Objekt gerichtet ist und ihm deshalb auch kein objektives Erkennen der Vergangenheit möglich ist. Ich meine aber doch, daft es so etwas wie vergangene Wirklichkeit als Gegenstand seines Bemiihens um Erkenntnis gibt, daB es sich bei der Geschichte also nicht nur um Illusionen im heutigen BewuBtsein handelt, sondern umden Versuch von Rekonstruktionen vergangener Wirklichkeiten, des Entwicklungsprozesses aus sozialen Faktizitäten, technischen Möglichkeiten, Werthaltungen und Weltwahrnehmungen, aus denen die unsrigen hervorgegangen sind. Ihr versucht sich der Historiker zu nähern in der Verfangenheit in eigene Vorverständnisse, der Gebundenheit an Erkenntnisinteressen und daraus abgeleitete Frageansätze und in der Beschranktheit der uberlieferten Quellenzeugnisse. Sein in einer langen Geschichte der Historiographie entwickeltes Instrumentariumdient dem ständigen Bemiihen, jenseits dieser Verfangenheiten zu Ergebnissen zu gelangen, die zwar an Aspekte und Sehweisen gebunden sind, innerhalb deren aber rational begriindbar und diskutierbar bleiben. Diese theoretischen Grundannahmen sind fiir die folgenden Ausfiihrungen insofern von Bedeutung, als die zu entwickelnden mehrfachen methodischen Zugriffe auf denselben Gegenstand nur so ihre Begriindung finden können. II. Erkenntnisinteressen und Fragestellungen der Rechtsgeschichte heute Die Bewufitheit der eigenen Erkenntnisinteressen ist fiir den vertretenen Ståndpunkt von Bedeutung. Sie sollen deshalb zuerst angesprochen werden.
10 Ich fasse sie hier in einem sehr allgemeinen Sinne auf, in welchemsie eine Verbindung des wissenschaftlichen Faches mit den aktuellen Fragestellungen unserer Zeit und unserer Gesellschaft bilden. Die Rechtsgeschichte hat innerhalb der Rechtswissenschaft solche Fragestellungen immer besonders deutlich gespiegelt. Wir können die Aussonderung der Rechtsgeschichte als eines eigenen Faches sogar als Folge einer Säkularisierung des Rechts, der Auflösung religiöser, metaphysischer und naturrechtlicher Rechtsbegriindungen sehen. Ein letzter solcher „Rechtsglaube” ist der des begriffsjuristischen Positivismus, der die Rechtsgeschichte als eine Entwicklung zu ,,richtigen” Rechtsbegriffen und einer auch inhaltliche Gerechtigkeit verbiirgenden Systematik dieser Begriffe und der aus ihr entspringenden Normen sah.' Im Bereich der deutschen Rechtsgeschichte ist das Gebiet des deutschen Privatrechts davon besonders gepragt. Die „Historisierung” der Rechtsgeschichte entzieht ihr auch diesen Boden, fiigt sie aber umso intensiver in das soziale Wirkungsfeld der jeweiligen historischen Gesellschaft, in deren Wertvorstellungen, geistige Vorprägungen und Mentalitäten.^ Damit mul? das Problemder Entstehung von Recht aus gesellschaftlichen Entwicklungen und Bediirfnissen und andererseits die Frage der Wirkung von Recht auf Gesellschaft, auf ihre Strukturierung, Bewahrung und Veränderung als zentrale Frage in den Vordergrund riicken.^ Anders als in philosophischen Ansätzen des 19. Jhdts. ist dabei heute davon auszugehen, dal? wir das Verhältnis von Recht und Gesellschaft (man könnte ebenso sagen: die Kultur einer Zeit) als ein Geflecht von Sozialstrukturen, Wertvorstellungen, Normen, wirtschaftlichen und herrschaftlichen Determinanten und Standards von Rationalität ansehen miissen, deren Wechselbeziehungen es wissenschaftlich aufzuhellen gilt, ohne dal? von einer theoretischen oder methodischen Vorgabe der vorgenannten Art ausgegangen werden diirfte. Das heil?t aber auch, dal? keinemwissenschaftlichen Fachgebiet ein Primat zukommt, also im konkreten Zusammenhang weder den Sozialwissenschaften im Verhältnis zur Rechtswissenschaft oder umgekehrt, weder der Sozialgeschichte imVerhältnis zur Rechtsgeschichte oder umgekehrt. Diese offene Situation bedingt auch den Verzicht, einen Primat fiir mehr theoretisch ausgerichtete Wissenschaften (etw'a die Soziologie oder Rechtstheorie) noch fur mehr empirisch ausgerichtete Wissenschaften (Sozialwissenschaften, Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte) zu vindizieren. Wohl aber erfährt die historische Dimension insgesamt eine Aufwer- ' Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 433 f. Gerhard Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus, in; Archiv fiir Rechts- und Sozialphilosophie, Band 61 1975,, S. 497 ff. - Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Anm. 1). Dieter Simon, Art. Rechtsgeschichte in: Axel Görlitz, Handlexikon zur Rechtswissenschalt Band 2, Hamburg 1974, S. 314 ff. Franz Wieacker, Art. Methode der Rechtsgeschichte, in: HRG Bd. 3 Sp. 518 ff. ^ Gerhard Dilcher, Einleitung, in: Sozialwissenschaften imStudium des Rechts, Bd. IV Rechtsgeschichte, Miinchen 1978, S. 3 ff.
11 tung, well der Bewährung ausgesetzte und erhellende Erkenntnisse nur in der Dimension der Zeitlichkeit aller menschlich-gesellschaftlichen Phänomene zu erwarten sind/ IIL Der konkrete Problembereich der Untersuchung: Soziale Gruppen und städtische Kommunebildung imMittelalter Die Bildung der mittelalterlichen Stadtkommune, imwesentlichen im12. Jhdt. vollzogen, stellt sich immer stärker als wichtiger und zentraler Vorgang der Verfassungsbildung des Mittelalters heraus. Er besitzt in der Formder Begriindung einer eidgenossenschaftlichen Biirgergemeinde europäische Gemeinsamkeit.^ Auf ihn soil als Rahmenbedingung jedoch nur Bezug genommen werden. Er soil hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Im Vorfeld jedoch dieser städtischen Verfassungsbildung spielen sich wichtige soziale, wirtschaftliche und rechtliche Vorgänge ab, ohne die die Bildung der Stadtkommune nicht historisch möglich und wissenschaftlich erklärbar erscheint. Gegeniiber der europäischen Einheitlichkeit, in der sich die Bildung der Kommuneform als biirgerlicher Eidgenossenschaft darstellt, smd diese Vorgänge von gröBerer regionaler und individueller Unterschiedlichkeit, recht unterschiedlich etwa in Siid-, Mittel- und Nordeuropa.^ Sie sind aufierdemvon der Quellenlage her schwerer zugänglich. Wenn wir auch als auslösende Faktoren der Entwicklung wirtschaftliche Prozesse - im Bereich von Handel, zunehmender Geldwirtschaft und dem, vor allemgewerblichen Produktionssektor — und die sie begleitenden sozialen Veränderungen annehmen miissen, so spielen doch normative Vorstellungen und rechtlich-soziale Verfassungen der beteiligten Bevölkerungsgruppen eine wichtige Rolle in diesem Prozefi. Das ergibt sich schon daraus, dal? in der Kommune eine neue Form rechtlich geprägten Miteinanderlebens innerhalb des städtischen Sektors der mittelalterlichen Gesellschaft erreicht wird. Jedenfalls fiir Nord- und Mitteleuropa scheinen amAusgangspunkt der Entwicklung Formen der Vergemeinschaftung zu stehen, die quellensprachlich wie auch in der Forschung iiberwiegend unter dem Stichwort ,,Gilde” gefafit Otto Gerhard Oexle, die Geschichtswissenschaft imZeichen des Historismus, Bemerkungen Ståndort der Geschichtsforschung, in: HZ 238 1984, S. 17 ff. Ders., Rechtsgeschichte und zum Geschichtswissenschaft, in: Akten des 26. Rechtshistoriokartages, hg. v. Dieter Simon (ius Gommune, Sonderheft 30) Frankfurt a.M. 1987, S. 77 ff. Hans Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter, Graz, Köln, 1954. Edith Ennen, Eriihgeschichte der europäischen Stadt, Bonn 1953; Wilhelm Ebel, Der Biirgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, Weimar 1958. ^ Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune, Aalen 1967. Edith Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, 4. Aufl., Göttingen 1987, mit reichen Literaturnachweiscn.
12 werden/ Sie entstehen dort, wo soziale Notlagen nicht durch vorhandene Verfassungsformen aufgefangen werden (Unfriede, Seefahrt, Vereinzelung der Gemeindepriester, dann vor allem die Situation der Handeltreibenden in einer aristokratisch-bäuerlichen Agrargesellschaft). Lujo Brentano nannte dies mit einer einprägsamen Formulierung ,,Verhältnisse der Desorganisation”.® Die Gilde setzt dem entgegen die emotionale Bindung ähnlich der Blutsverwandtschaft (Confraternitas), Rituale sozialer Nähe (Gemeinsames Mahl und Trunk, Fest) und religiöse Vergemeinschaftung, die auf beidem baut (Gottesdienst, Totenkult). Die Gilde griindet sich aul^erdemauf demgemeinsamen Eid (conjuratio), dem verbindlichsten religiös-rechtlichen Akt, den die Zeit iiberhaupt kennt.’ Religiös bedeutet er Einsatz des eigenen Seelenheils, aber auch irdischen Glucks durch bedingte Selbstverfluchung, rechtlich ist er durch obrigkeitliche, kirchliche und kollektive Strafen sanktioniert. Alle diese Mittel der Konstituierung und Bindung der Gilde sind insgesamt als Formen einer archaischen Gesellschaft dem heutigen Menschen schwer zugänglich. Soziale Normen mit Rechtscharakter spielen also in diesem Prozel? eine Rolle und entwikkeln sich auf demWeg zur Stadtkommune zu einemElement gröfierer Bedeutung und ausgeprägter, entwickelterer Rationalität. Deren Qualität und deren Beziehungen und Verflechtungen zum „Sozialen” wie auch zum ,,Mentalen” kann aus all diesen Griinden nicht einfach vom modernen Rechtsbegriff her bestimmt werden, sondern mufi innerhalb des Forschungsprozesses selber Gegenstand der Erforschung bleiben. Damit steht fest: Der Begriff „Recht” selbst kann nicht als eine Kategorie, deren man sich begrifflich sicher ist, verwendet werden. Vielmehr befindet sich ,,Recht” noch in einer Einheit mit dem Religiösen wie mit engsten sozialen Bindungen, die erst langsam seit dem Fiochmittelalter durch einen Prozefi der Ausdifferenzierung gelöst wird. ^ Der neueste Stand ist zusammengefafit vor allem in; Herbert Jankuhn u.a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und friihgeschichtlicher Zeit, Teil 1, historische und rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Friihgeschichte der Gilde (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen) Göttingen 1981, dort bes.: Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, S. 284 ff.; Ruth Schmidt-Wiegand, Gilde und Zunft, die Bezeichnung fiir Handwerksgenossenschaften im Mittelalter; (Vorträge und Forschungen Bd. XXIX), Sigmaringen 1985, dort vor allem Ruth Schmidt-Wiegand, Die Bezeichnungen Zunft und Gilde in ihremhistorischen und wortgeographischen Zusammenhang, S. 31 ff.; Franz Irsigler, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, S. 53 ff. Otto Gerhard Oexle, Conjuratio und Gilde im Friihen Mittelalter, S. 51 ff. * Lujo Brentano, Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, 1871, S. XII, zitiert nach Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit mit Anm. 7, S. 294. ’ Vgl. A. Erler/G. Dilcher, Art. Eid in HRG Bd. 1, Sp. 861 ff.; G. Dilcher Art. conjuratio, HRGBd. l,Sp. 631 ff. Diese Kategorie wird hier im Sinne der modernen Systemtheorie verwandt. Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Hamburg 1972, und ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt a.M 1981.
13 IV. ZumMethodenproblem Die hier vorgelegte Analyse bezieht sich auf einen Beitrag des Autors zu der Tagung des Konstanzer Arbeitskreises zu dem Thema ,,Gilden und Ziinfte”." Ich hielt das wohl problematische Vorgehen, eine eigene Arbeit nochmals zu analysieren, fiir die Zwecke dieses Symposions fiir erlaubt und fruchtbar, weil dadurch die Rolle theoretischer und methodischer Uberlegungen fiir eine konkrete (rechts-)historische Arbeit besonders anschaulich werden konnte. — Der genannte Beitrag hatte die Aufgabe, aus rechtshistorischer Sicht die genossenschaftliche Struktur der innerstädtischen Verbände von Kaufleuten und Handwerkern herauszuarbeiten. Er steht dabei im Kontext anderer Beiträge, die die realhistorischen Grundlagen von Handel und Gewerbe (R. Sprandel), die philologischen Fragen der Bezeichnung der fraglichen Gruppen (R. Schmidt-Wiegand), die wissenschaftliche Terminologie (F. Irsigler), das Kontinuitatsproblem (O. G. Oexle) und zahlreiche andere Probleme behandelten. Das Gesamtprogrammwar also auf die Beleuchtung des Themas aus demBlickwinkel verschiedener fachwissenschaftlicher Aspekte angelegt. Der mir anvertraute war dabei nicht als eng rechtshistorisch zu verstehen, sondern in der Tradition der Erfassung sozialer Formen durch die rechtshistorische Germanistik”, wie sie einst Otto von Gierkes ,,Deutsches Genossenschaftsrecht” versucht hatte. Fin methodisches Problem, das sich daraus ergab, stellte die Darstellung der Verbindung von rechtlichen und sozialen Strukturen in einer Zeit dar, in der, wie wir sahen, die Ausdifferenzierung dieser Bereiche noch keineswegs vollzogen war. Fin zweites methodisches Problem ergab sich daraus, dafi die innerstädtische Verbandsbildung in Gilden und Ziinften fiir den Zeitraumvor, während und nach der Entstehung der Stadtgemeinde bzw. geschworenen Burgereinung behandelt werden sollte. Dieser letztere Vorgang ist aber einerseits in der Forschung stets in einemWirkungsverhältnis, wenn nicht sogar in kausaler Abhängigkeit von vorkommunalen Gilden dargestellt worden, wahrend andererseits die Existenz der Btirgerkommune das Wesen innerstädtischer Verbände nachhaltig beeinflussen mulke: ,,Verhältnisse der Desorganisation” bestanden ja nun jedenfalls nur noch in weit eingeschränkteremMaf^e. Eine Vernachlässigung der neuen Rahmenbedingung der geschworenen Biirgergemeinde hätte möglicherweise ein falsches Bild linearer Entwicklung, der Kontinuität der inneren Struktur dieser innerstädtischen Verbände entworfen. Gerade der zuvor " Gerhard Dilcher, Die genossenschattliche Struktur von Gilden und Ziinften. in: Bernhard Schwineköper (Hg.), wie Anm. 7, S. 71. Dieser Beitrag rniifite zu der hier vorgelegten Analyse parallel gelesen werden. ’’ Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht (1868—1918) Bd. 1-4, 1868-1918, Nachdruck, Darmstadt 1964. Zur Tradition der rechtshistorischen Germanistik erhellend Otto von Gierke, Die Historische Rechtsschule und die Germanisten, Berlin 1903, dazu auch Wieackers Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 453 ff. Gerhard Dilcher, Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein ,,Juristensozialismus” Otto von Gierkes? in; Quderni Fiorentini 1974/75, S. 319 ff.
14 dargestellte wichtige Aspekt des möglichen qualitativen Wandels imVerhältnis von gesellschaftlichen und rechtlichen Formen hätte dann kaum thematisiert werden können. Bei einer Verfolgung der Entwicklung von Quelle zu Quelle hätten sich die Schwächen einer iiberwiegend hermeneutischen Vorgehensweise herausgestellt, auch wenn man die vorgenannten Gesichtspunkte bei der Darstellung imAuge hätte behalten wollen. Die Untersuchungen zur Veränderung des Rechtsbegriffs wie auch die Ausgriffe auf den sozialen und verfassungsrechtlichen Kontext hätten im Gang der Darstellung der Beliebigkeit des Forschers unterliegen miissen, ohne ein kontrollierendes methodisches Geriist. Auslegung der Quellen und „Einlegung” der Vorverständnisse des Verfassers wären wenig kontrollierbar ineinander iibergegangen. V. Methodik und Darstellungsstrategie der Untersuchung Ich entschied mich deshalb zur Vorgehensweise einer dreifachen Austaltung der Problematik. Dadurch sollte das komplexe Verhältnis des Forschers zu den Quellen einerseits, die Veränderungen in einer geschichtlichen Entwicklung innerhalb der untersuchten Zeit (10. bis 13. Jhdt.) andererseits, zur Darstellung in einem notwendigerweise zeitlich eindimensionalen Text gebracht werden. Ein solcher Text bedeutet ja immer ein andersartiges Neben- und Nacheinander, als es ein vorgestellter Gang historischer Ereignisse in ihren komplizierten Wechselwirkungen realer und mentaler, faktischer und normativer Faktoren wäre. Diese Andersartigkeit der Zeit- und Raumdimension in der Darstellung mul5 bei rechtshistorischen Arbeiten, die auf die Herausarbeitung der normativen Ebene abzielen, noch stärker als bei einer ereignisgeschichtlichen Darstellung berticksichtigt werden, der das Nacheinander der Erzählung eher entspricht. 1. Die erste Ausfaltung der Problematik war der Klärung des wissenschaftsgeschichtlichen und begrifflichen Ausgangspunktes gewidmet.'^ Die Definition der Probleme und der Forschungsbegriffe stammt aus einer bestimmten wissenschaftsgeschichtlichen Situation des 19. Jahrhunderts, in welcher der historischen Forschung, insbesondere in Deutschland, ein hoher Stellenwert zur Klärung der Entwicklung der biirgerlichen Gesellschaft in der Epoche der Industrialisierung zugesprochen wurde. Insbesondere umdie Strukturierung der Gesellschaft nach mehr autoritärstaatlichen Prinzipien (von Below) oder genossenschaftlich-gruppensolidarisch-pluralen Prinzipien (Brentano, Gierke) wurde auch und gerade imFelde der deutschen Geschichtswissenschaft gerungen. Dieser Aktualitätsbezug hinderte jedoch nicht die Ausbildung eines sehr G. Dilcher, Die genossenschaftliche Struktur (wie Anm. 11), S. 71-76 Dazu Gerhard Dilcher, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, Symposion fur Adalbert Erler, hg. v. Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp, Berlin, 1986, S. 114 ff.
15 diffenzierten, sozialen und juristischen historischen Begriffsapparates und eines spannungsreichen Problemverstandnisses. Erst nach Abklingen dieser Diskussion am Ende des 19. Jhdts. degenerierte der Gebrauch der entwickelten Begriffe zu einer positivistisch-eindimensionalen Verwendung von Worten wie Genossenschaft, Gilde, Zunft u.a., die sowohl deren dialektischen Spannungen zumhistorischen Umfeld der Quellenzeugnisse wie auch die erkenntnistheoretischen Spannungen zwischen Quellenbegriff und wissenschaftlichem Ordnungsbegriff weitgehend eliminierten. Das urspriingliche differenziertere Verständnis hat sich noch amstärksten in der rechtshistorischen Wissenschaftstradition (dargestellt vor allem an W. Ebel und K. S. Bader) erhalten; '■* wohl deshalb, weil die Rechtshistoriker sich am meisten der Herkunft aus den klassischen wissenschaftlichen Werken bewuBt waren und als Angehörige der Rechtswissenschaft von der juristischen Methode her gewohnt waren, das Verhältnis begrifflicher Normativität zu sozialer Vielfalt zu beachten. Dieser erste Durchgang meiner Arbeit klärt also in einem kurzen Aufrifi der Problem- und Forschungsgeschichte hermeneutische Probleme, die sich dem Bearbeiter der Thematik stellen. 2. Die zweite Ausfaltung der Problematik versucht, in einem diachronischen Durchschreiten, in einem vorwiegend kritischanalysierenden Vorgehen, eine Reihe von Quellen aus ihrem eigenen Kontext auf die Entwicklungslinie hin zu befragen.'^ Es ging also darum, mit der klassischen historischen Methode der Interpretation konkreter Quellenzeugnisse ein Bild der Entwicklungslinie von den vorkommunalen genossenschaftlichen Verbänden bis zu den in die Biirgergemeinde eingebetteten Gilden und Ziinften des 13. Jhdts. zu gewinnen. Es wurde dabei versucht, fiir eine jeweilige Phase besonders aussagestarke Quellen, unter Veranderung des örtlichen Beobachtungsfeldes, zu finden; natiirlich ist diese Auswahl einer gewissen „Willkur” des Autors, oder auch seinem Vorverständnis des geschilderten Entwicklungsprozesses, unterworfen. Doch bewährt sich hier die problemklärende Wirkung der traditionellen historischen Methode einer genauen Quelleninterpretation. a) Die ausfiihrlichste Quelle aus der Zeit bischöflicher Stadtherrschaft, das Hofrecht des kanonistisch gebildeten Bischofs Burchard von Worms um 1024,'^ enthält ausfiihrliche Aussagen iiber genossenschaftliche Gruppen zwischen Freiheit und Unfreiheit, weitgehend ohne Scheidung von Stadt und Land. Es handelt sich um ständisch sehr verschieden einzustufende Gruppen der bischöflichen familia, die durch persönlichen Status und Bodenbesitzrechte Ich beziehc niich dabei vor allem auf W. Ebel, Der Biirgereid (Anm. 5); ders., Die Willkiir. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts, Göttingen 1953. Karl S. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes II, 1962). G. Dilcher, Die genossenschaftliche Struktur (Anm. 11), S. 76—80. a.a.O., S. 80 ff. Edition in; UB der Stadt Worms, hg. v. H. Boos, 1. Bd. 1886, Nr. 48; MGH Const. I Nr. 438.
16 geformt sind. Ihre genossenschaftliche Struktur zeigt sich in den Bezeichnungen socii, concives, in Erbrecht wie Gerichtsverfassung. Da die Genossenschaften durch Geburt, Besitz, Herrschaft vorgeformt sind, bleibt fiir eine „freie Einung” kein Raum. b) In die Zeit der Ausbildung einer Ortsgemeinde im Umfeld der Stadt Köln fiihrt das Niedericher Weistumvon ca. 1100, das die Verbindung lokaler mit personalgenossenschaftlichen Elementen der Gemeindebildung zeigt. Der Niederich ist eine Nachbarschaftsgemeinde, die demnächst innerhalb der Kölner Stadtgemeinde an der stadtischen Entwicklung teilnehmen sollte. Gegeniiber den zuvor untersuchten Wormser Verhältnissen stellt sie eine neuere Entwicklungsstufe zur Stadt dar, ohne jedoch die Verbindung zumländlichen Bereich schon aufgegeben zu haben. Die genossenschaftliche Verbindung der cives des Niederich beruht auf traditionellen Elementen: Gericht, Bodenbesitzrecht, Pfarrgemeinde. Es besteht aber daneben eine Communio der Burger mit Mitgliederverzeichnis und der Wahl von Amtsträgern, also eine auf persönlicher Mitgliedschaft, nicht auf vorgeformten Strukturen beruhenden Gemeinschaft, die Verbindungen zur Form der fraternitas und Gilde zeigt. Ein Wandel in den Grundlagen der sozialen Gruppenbildung imUmfeld der Stadt ist damit gerade durch diese Quelle erfaftt. c) Das Gandersheimer Vogtweistumvon 1188 zeigt die genossenschaftliche Organisation der Bevölkerungsgruppen an einem Marktort in der Sicht der an der Gerichtshoheit interessierten geistlichen Herrschaft.Gandersheim ist eine der aus mehreren Siedlungskomplexen verschiedener Rechtsstellung hervorwachsenden mittelalterlichen Städte. Dementsprechen Bewohner verschiedenen Rechtsstatus: Hörige Zinsbauern, Hofhandwerker, aber auch freier gestellte Markbewohner und schliefilich Berufskaufleute. Unter Durchbrechung der sonstigen getrennten Gerichtsunterworfenheit unterstehen sie alle der Marktgerichtsbarkeit fiir Fragen des auf dem örtlichen Markt getätigten Handels: Ein Zeichen daftir, wie der Handel die traditionellen, auf Grundherrschaft und persönlicher Unfreiheit gegriindete Gruppenbildungen aufsprengt. d) Die Betrachtung der Entwicklungvon Goslar im 12. und friihen 13. Jhdt. zeigt schliefilich, deutlicher als bei Stadten mit dynamischerer Entwicklung, das langsame Zusammenwachsen genossenschaftlicher Gruppen aus urspriinglich verfassungsmäfiig getrennten Siedlungskörpern, denen auch verschiedene Berufsstellungen entsprechen (Ministeriale, Kaufleute, Berg- und Waldleute, Handwerker).*^ Die unterschiedlichen bodenbesitzrechtlichen, berufsprivilegierenden und ständischen Rechtsstellungen können nur in einem langen, spannungsreichen Prozefi in die biirgerliche Stadtgemeinde eingefiigt werden. a.a.O. S. 83 ff. Edition in; Th. Buyken und H. Conrad (Hg.), Die Amtleutebiicher der Kolnischen Sondergemeinden, 1936, S. 221. a.a.O. S. 86 ff. Edition in Gerhard Kallen, Probleme der Rechtsordnung in Geschichte und Theorie, 1965. ” a.a.O. S. 88 ff, vor allemmit Bezug auf K. Fröhlich wie dort zit.
17 e) Schliefilich wurde versucht, die Struktur von Biirgergemeinde und innerstädtischen Genossenschaften in der Sicht von Rechtsakten Kaiser Friedrichs II. zu erfassen.’° Hier zeigt sich, daft die Erfahrung des Kaisers und seiner Berater mit dem entwickelteren oberitalienischen Städtewesen, wie auch die geistige Schulung am römischen Rechtsdenken zu Aussagen und Normierungen fiihrt, welche die Vielfalt der Einzelentwicklungen in den Städten schon zu ,,Idealtypen” zusammenfal^t. Diese Quellen bieten also fiir den Historiker eine willkommene Briicke, indem er der Zeit selbst zugehörige Generalisierungen zur Grundlage seiner eigenen, generalisierend-zusammenfassenden Aussagen verwenden kann und dadurch die Verbindung der modernen Interpretation zum Selbstverständnis der Zeit wahren kann. Der analytisch-diachronische Aufrifi bietet somit einerseits die Möglichkeit fiir eine kritische, individualisierende Quelleninterpretation, andererseits die Ansätze zur Entwicklung weiter ausgreifender Typenbildung. 3. Die dritte methodische Ausfaltung bietet eine Typenbildung in Bezug auf die vorgefundenen Verbandsformen.^' Diese Typenbildung ist induktiv, indem sie die Vorkenntnisse aus der wissenschaftlichen Problemgeschichte wie die Ergebnisse der Quellenanalyse verwertet. Sie ist gleichzeitig nominalistisch, nicht begriffsrealistisch, d.h. der Forscher bildet sie zum Zwecke der historischen Erkenntnis, entnimmt sie nicht der Wesenheit des untersuchten Objektes (und auch nicht unmittelbar der Quellensprache). Sie soil Idealtypen darstellen und lehnt sich insofern an Max Weber an, und zwar sowohl an seine konkrete soziologische Arbeit, innerhalb deren er eine welthistorische Idealtypik der Stadt entworfen hat,““ wie an seine wissenschaftstheoretischen Begriindungen der idealtypisierenden Methode.^^ Zwei häufigen MiBverständnissen dieser Methode ist dabei vorzubeugen: Der Idealtypus stellt weder einen Ausdruck ,,idealistischer” Weltdeutung dar, noch will er andererseits empirische Realität unmittelbar beschreiben. Er will vielmehr ein heuristisches Mittel bieten, Realität im Vergleich mit dem Idealtypus, in Ubereinstimmung, Abweichung und Mischung, methodisch genauer und kontrollierter zu beschreiben, als dies mit empirisch-positivistischen oder rein hermeneutischen Methoden möglich ist. Ausgangspunkt der ,,verstehenden Soziologie” Max Webers ist dabei das Bestreben, menschliches Handeln in seiner Sinnbezogenheit zu erfassen, also sowohl in seinem Realitätsbezug wie in seinen geistigen Vorprägungen und Wertprinzipien, dabei materielle und ideelle Komponenten jenseits des Marx- ’schenUberbaumodelles zu integrieren. Vor allem in „Wirtschaft und Gesellvgl. a.a.O. ’’ Die folgenden Ausfiihrungen beziehen sich auf Kap. IV meines Aufsatzes, a.a.O. S. 94 ff. ’’ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln, Berlin 1964, S. 923 ff. Vor allemin Wirtschaft und Gesellschaft, die ersten methodologischen Kapitel, auch als Aufsatz: Methodische Grundlagen der Soziologie, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tubingen 1922, S. 303-523, sowie: ders., iiber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, zuerst: Logos 1913, auch in: gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre S. 403—450.
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