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325 Mehrzahl der Untergerichte gebräuchlich. Die wichtigsten Grundsätze des kammergerichtlichen Prozesses waren neben dem Schriftlichkeitsprinzip die Verhandlungsmaxime, die es den Partien iiberlief^, uber Prozefimaterial und Prozefi zu entscheiden, sowie das sogenannte artikulierte Verfahren, das von den Parteien die Aufteilung und Formulierung ihres Vorbringens in bestimmten Punkten, Artikeln oder Positionen verlangte. Der Kameralprozefi war jedoch nicht iiberall siegreich. In Sachsen wurde im 16. und 17. Jahrhundert ein Zivilprozeft entwickelt, der wesentliche Bestandteile aus dem älteren sächsischen Recht bewahrte. Dieses Verfahren wurde vor allemdurch die Kursächsischen Konstitutionen von 1572 und die Prozefi- und Gerichtsordnung des Kurfiirsten Johann Georgs I. vom28. Juli 1622 geregelt. Wesentliche Bestandteile des sächsischen Verfahrens wurden dann durch den Jiingsten Reichsabschied von 1654 fiir das Reichskammergericht ubernommen, was dazu fiihrte, daft das Artikel- oder Positionalverfahren abgeschafft wurde. Aus dieser neuen Verfahrensform entwickelte sich später der gemeine ProzeB als eine Mischform der beiden friiheren Prozeftformen. Er kannte kein Artikel- oder Positionalverfahren, wohl aber die sächsische Eventualmaxime, die von dem Kläger verlangte, seine Angriffsmittel sogleich vollständig darzustellen, während der Beklagte verpflichtet war, seine Verteidigungsmittel ebenfalls in einem Zusammenhang und vollständig anzugeben. Aus dem sächsischen iibernahm der gemeine Prozefi auch das selbständige Beweisurteil, das Beweisinterlokut, das den Prozefi in zwei Teile teilte. Vomfriiheren Kameralprozel? iibernahm man das schriftliche, nicht-öffentliche Verfahren und die Verhandlungsmaxime. Weiter liefi man keine freie Beweiswiirdigung zu, sondern verpflichtete den Richter, legalen Beweisregeln zu folgen. Der gemeine Prozefi wurde nie die gelungene Prozefiform, die man sich erhofft hatte. Er war zu umständlich und schwerfällig. In Osterreich kames zu Reformen durch die Allgemeine Gerichtsordnung Josephs II. vom1. Mai 1781, die in späteren Bearbeitungen in unterschiedlichen Landesteilen zur Anwendung kam. Auch in Brandenburg-Preufien entschied man sich fiir eine Reform des Zivilprozesses. Man wollte die Verwendung von Advokaten beschränken und am besten ganz abschaffen, man wollte die Versendung von Akten an die Spruchfakultäten und die Eventualmaxime abschaffen, und man wollte die Untersuchungsmaxime in den Zivilprozefi einfiihren. Eine Folge dieser Prozefireformwar es, dais das miindliche Verfahren umfassender wurde als friiher. Die preul^ische Prozebreform wurde kodifiziert im Corpus Juris Fridericianum vom 26. April 1781 im I. Buch „Von der Prozef?ordnung“ und dann nach gewisser Umarbeitung durch die Allgemeine Gerichtsordnung fiir die Preufiischen Staaten vom6. Juli 1793. Diese Prozebreformgelang jedoch nicht, und man griff deshalb in Preufien im 19. Jahrhundert wieder weitgehend auf den gemeinen Prozel^ zuriick. Neuerliche Reformen folgten dann 1833 und 1846.

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