237 Rechtsprechung. Puchta bezeichnet nur Gewohnheitsrecht, Gesetzgebung und Wissenschaft als Rechtsquellen, während der Richter nur ein Anwender des wissenschaftlichen Rechts sei. Savignys Einstellung zur Gerichtspraxis ist einigermafien positiver; Kollegialgerichte mit gelehrten Richtern können selbst wissenschaftliches Recht erzeugen. In der deutschen Doktrin um die Jahrhundertwende wird der Begriff „Juristenrecht“ schon recht allgemein abgelehnt. Weil man jetzt die Gewohnheit als Grundlage des Gewohnheitsrechts betonte, konnte die Gerichtspraxis mit dem Gewohnheitsrecht verglichen werden. Insbesondere Oscar Biilow fordert die Aufwertung der Gerichtspraxis; der Recht schaffende Richter sei dem Gesetzgeber ebenbiirtig. Einige Autoren können jedoch nicht dem Gerichtsgebrauch als einer Rechtsquelle zustimmen. Die Rechtswissenschaft wird nur ausnahmsweise als eine Rechtsquelle bezeichnet. Der Wissenschaftler finde das Recht, schaffe es aber nie. In der heutigen nordischen Rechtsquellenlehre spielt die Praxis eine bedeutende Rolle; die Rechtsprechung wird als die zweitwichtigste, bisweilen sogar als die wichtigste Rechtsquelle bezeichnet, und die Präjudizien des obersten Gerichtsholes haben die gleiche Kraft als klare Gesetzesvorschriften. Man betont aber, dafi die Präjudizien nicht juristisch bindend seien; jedoch haben die Präjudizien des obersten Gerichtshofes vor allem in Norwegen eine grofie tatsächliche Bedeutung. Als Argumente/zVr eine Gebundenheit an Präjudizien werden immer praktische Erwägungen vorgelegt. Die Rechtssicherheit und die Autorität der Gerichte erfordern eine einheitliche Rechtsprechung. Die obersten Gerichtshöfe haben bessere Möglichkeiten, alle gesellschaftlichen Wirkungen einer Entscheidung zu iiberblicken. Ein Urteil gegen die Praxis des obersten Gerichtshofes habe mit grower Wahrscheinlichkeit eine Berufung zur Folge und verlängere damit den Prozefi. Die Bedenken gegen eine Gebundenheit sind meistens konstitutionell: der Gesetzgeber verliere einen Teil seiner Gesetzgebungsgewalt, und eine so weitgehende Macht der Richter wird als undemokratisch empfunden. Man behauptet oft, die nordische Doktrin des 18. Jahrhunderts habe eine negative Einstellung zur Rechtsprechung; vor allemdie Aussagen Calonius’ miissen als ein Beispiel dieser Einstellung dienen. Eine Analyse der Vorstellungen im 18. Jahrhundert zeigt jedoch, dafi die Autoren an sich nichts gegen die Anwendung von Präjudizien hatten; sie warnen nur vor den (damals oft vorkommenden) nicht wissenschaftlich gebildeten Richtern, die fehlende Jurakenntnisse durch eine Suche nach Präjudizien zu ersetzen versuchten. Die Einstellung zur Rechtsprechung als Rechtsquelle wird jedoch am Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich positiver. Am Anfang des 19. Jahrhunderts werden, zuerst auf private Initiative in
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