72 Der Wettbewerb um die Gunst des Volkes, den der gesetzwidrige Kampf der Fakultäten darstellte, verlockte die Vertreter der oberen Fakultäten, als Wundertäter aufzutreten, ohne Deckung fur ihre Behauptungen und Versprechungen zu haben. Damit wurde die natiirliche Fremdheit zwischen diesen Fakultäten und der unteren Fakultät zu einer offenen Feindschaft. Der gesetzwidrige Streit der Fakultäten fiihrte dazu, dafi die Vertreter der oberen Fakultäten unaufhörlich und, gemäf^ Kant, mit einem gewissen Enthusiasmus die Grenzen zu möglicher Erkenntnis iiberschritten und hierdurch den dogmatischen Irrtumbegingen: „Wenn die obern Fakultäten solche Grundsätze annehmen (. . .), so sind und bleiben sie ewig im Streit mit der unteren; dieser Streit aber ist auch gesetzwidrig, weil sie die Ubertretung der Gesetze nicht allein als kein Hindernis, sondern wohl gar als erwiinschte Veranlassung ansehen, ihre grofie Kunst und Geschicklichkeit zu zeigen, alles wieder gut, ja noch besser zu machen, als es ohne dieselbe geschehen wiirde. “ 16 Der gesetzwidrige Kampf zwischen den Fakultäten wurde durch das Faktum charakterisiert, dal? er mit Niitzlichkeitsargumenten als Waffen gefiihrt wurde. Diejenige Disziplin, von der gesagt werden konnte, dal? sie am meisten von Nutzen fiir gewisse ausgewählte äul?ere Interessen war, wurde auch im Rang am höchsten angesehen. Deswegen, meinte Kant, war es auch nicht eigentiimlich, dal? die höheren Fakultäten sich unaufhörlich der Grenziiberschreitung schuldig machten, durch die sie auf eine unerlaubte Weise, die Reichweite der wissenschaftlichen Argumentation zu erweitern suchten. Den einzigen Schutz gegen diese von aul?en gegebenen Griinde beruhend und damit nur vermeintlich philosophische Tätigkeit, stellte die Fähigkeit der freien Vernunft dar, einen inneren, wissenschaftlichen Zweck zu bestimmen. Auf die Frage, welche Organisation das Betreiben einer solchen philosophischen Kritik an den oberen Fakultäten zur Aufgabe hatte, gab Kant mit folgendemZitat eine explizite Antwort: „Es mul? zumgelehrten gemeinen Wesen durchaus auf der Universität noch eine Fakultät geben, die, in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung, unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen die Freiheit habe, die mit dem wissenschaftlichen Interesse, d.i. mit dem der Wahrheit, zu tun hat, wo die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist und keine Befehle etwas fiir wahr zu halten (kein crede, sondern ein freies credo) annimmt. <‘ 17 Nur die Fakultät, die ausschliel?lich die Pflege des wissenschaftlichen Interesses zur Aufgabe hatte, konnte in der Lage sein, eine solche, fast polizeiliche Funktion in der Universitätseinrichtung innezuhaben. Diese Fähigkeit, frei, nach des Denkens eigenen Prinzipien, jede Argumentation mit wissenschaftliAaO. S. 341. AaO. S. 329 f.
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