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69 ten, befand, war an sich den kantianischen Wissenschaftskriterien direkt entgegengesetzt.^ Zu dieser Zeit wurde der Streit zwischen den Fakultäten, gemäfi Kant, jedoch auf eine gesetzwidrige Weise gefuhrt. Die Rangordnung unter ihnen wurde auf der Grundlage der Fähigkeit der einzelnen Fakultät, Einflufi auf das Volk auszuiiben, bestimmt; der Argumentationsgrund ,,das Interesse der Wissenschaft“ hat nur eine untergeordnete Bedeutung fiir den Ausgang eines derartigen Zweikampfes. Auf diesen Streit, der im Hinblick auf den Nutzen der Fakultätsorganisation fiir verschiedene äufiere Zwecke gefuhrt wurde, griindete sich der Brauch, die philosophische Fakultät als die ,,untere” und die iibrigen Fakultäten als die „oberen“ zu bezeichnen: „Nach dem eingefiihrten Brauch werden sie in zwei Klassen, die der drei obern Fakultäten und die einer untern, eingeteilt. Man sieht wohl, dafi bei dieser Einteilung und Benennung nicht der Gelehrtenstand, sondern die Regierung befragt worden ist. Denn zu den obern werden nur diejenigen gezählt, deren Lehren, ob sie so oder anders beschaffen sein, oder öffentlich vorgetragen werden sollen, es die Regierung selbst interessiert; da hingegen diejenige, welche nur das Interesse der Wissenschaft zu besorgen hat, die untere genannt wird, weil diese es mit ihren Satzen halten mag, wie sie es gut findet. Die Regierung aber interessiert das am allermeisten, wodurch sie den stärksten und daurendsten Einflufi aufs Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegenstände der oberen Fakultäten. Daher behält sie sich das Recht vor, die Lehren der oberen selbst zu sanktionieren; die der untern iiberläfit sie der eigenen Vernunft des gelehrten Volks. Wenn sie aber gleich Lehren sanktioniert, so lehrt sie (die Regierung) doch nicht selbst; sondern will nur, da£ gewisse Lehren von den respektiven Fakultäten in ihren offentlichen Vortrag aufgenommen und die ihnen entgegengesetzte davon ausgeschlossen werden sollen.“ " Diese scheinbar untergeordnete Stellung war der Preis, den die philosophische Fakultät fiir ihre Unabhängigkeit von äufieren Befehlen bezahlen mufite. Die durch die kopernikanische Wende befreite Vernunft bekameinen realen Ausdruck in der Tätigkeit der philosophischen Fakultät und damit fiel die GestalKant wandte uberhaupt gerne den Begriff „eigentumlich“ an, urn zu betonen, dafi die oberen Fakultäten, seiner Meinung nach, auf Erkenntnisquellen aufierhalb des Bereichs der reinen, philosophischen Vernunft angewiesen waren, siehe z.B. „Eigentumlichkeit der tbeologischen Fakultät" (S. 333), „Eigentumlichkeit der medizinischen Fakultät" (S. 336) und sehliefilich „Eigentumlichkeit der Junstenfakultät" (S. 334). Siehe Schroder, J., Wisserischaftstheoric und Lehre der ,praktischen Jurisprudcnz' auf dcutschen Universitäten an der Wende zurn 19. Jahrhundert, S. 142: dafi der Rang einer Disziplin während des 18. Jahrhunderts, „nicht von dem Grad ihrer ,Wissenschaftlichkeit‘, sondern von ihren praktischen Nutzen abhängt, ist bekannt: die Wissenschaft erscheint ,mehr nur als . . . Durchgangspunkt fur juristische Aufgaben'" - (Zitat nach Flans Thieme: Der junge Savigny, in: Deutsche Rechtswissenschaft 7 (1942), S. 56). Zur Bedeutung dieser Bewertung fiir Rangordnung der Fakultäten untereinander, siehe auch S. 142 f., Fn. 50. Vgl. hierzu Nipperdey, T., Deutsche Gcschichtc, 1800-1866, S. 474. " Kant, aaO. S. 328 f.

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