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65 „Die Philosophic ist ihrer Natur nach zum Umfassenden, zum Allgemeinen hinstrebend. Wenn nun im einzelnen Menschen oder im Ganzen eines Geschlechts sich mit demuniversellen Geist höherer Wissenschaftlichkeit und der Erleuchtung durch Ideen die lebendigste und mannigfaltigste Erkenntnifi des Einzelnen verbindet, so entsteht jenes erfreuliche Gleichmafi der Bildung, woraus nun das Gesunde, Gerade, Tiichtige in aller Art von Wissenschaft und Handlung erwachsen kann. Wenn aber freilich in einem gegebenen wissenschaftlichen Zustand dem Trieb zu Umfassendem und Allgemeinem, der etwa durch Philosophic aufgeregt wird, weder die Fiille klassischer Bildung noch die einer wahren, auf Naturanschauung gegriindeten Erfahrung das Gleichgewicht hält, so ist unvermeidlich, das Ganze nach der Einen Seite sich neigend, friiher oder sparer iiberstiirze, an welch’ traurigemFall dann aber nicht die Philosophic schuld ist, sondern die Schwäche oder der Mangel desjenigen, das ihr gegeniiberstehen soil, und mit welchemzusammen sie allein den vollendeten Organismus der Bildung darzustellen vermag. Das Gewicht, das Schelling dem Anspruch beimafi, dafi es in jeder Wissenschaft mindestens ein Individuum geben mul5, das die einzelne Wissenschaft von Willkiir und Empirismus freimachen kann, geht explizit aus dem oben zitierten Ausspruch hervor. Die Wissenschaft im ganzen, deren Fähigkeit ihre bildende Kraft zu behaupten, ist in hohem Mafie davon abhängig, inwieweit die spezialwissenschaftliche Tätigkeit ihrerseits dazu in der Lage ist, wissenschaftliche Einheiten auf ihrer Systemstufe zu schaffen. Durch zum Beispiel den betriiblichen Zustand der Rechtslehre wurde die wissenschaftliche Bildung imgroBen und ganzen kompromittiert und gelähmt. Damit das groBe System der Wissenschaft die harmonische und produktive Einheit werden wiirde, die das Absolute ausdriickt, war es Voraussetzung, daB jeder einzelne Wissenschaftszweig aus eigener Kraft seine ,,kopernikanische“ Wende zu vollfiihren vermochte. Allein hierdurch wiirde es möglich werden, die Wissenschaft imgroBen und ganzen von deren empiristischen „Herumtappen“ zu befreien und eine wissenschaftliche Tätigkeit zu etablieren, die nach den wissenschaftlichen Anforderungen frei äuBere Organismen zu bilden vermochte. Die einzelnen Wissenschaften standen folglich durch die philosophische Konstruktion eines absoluten Standpunktes vor der Wahl, entweder Dienerinnen fiir oberflächliche Interessen zu verbleiben oder, mit ihrem eigenen wissenschaftlichen Grund als Ausgangspunkt, Kants Anspruch an kontinuierliche Fortschritte entlang demsicheren Weg der Wissenschaft zu erfiillen. “ 202 AaO. S. 362 f.

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