51 kenntnis abgebrochen, die schöpferische Kraft der Vernunft wurde durch die Aufsplitterung in zwei verschiedene Richtungen lahmgelegt - eine Konsequenz, die die notwendige Einheit der Wissenschaft bedrohte. Dieser schwache Punkt in der kantianischen Erkenntnistheorie biidete in erster Linie die Zielscheibe fiir Schellings idealistische Kritik. Hatte nicht auch die kantianische Vernunft den objektiven Ausdruck der menschlichen Vernunft, die Geschichte der Wissenschaft, als eine ununterbrochene Entwicklung bin zur idealen Vollendung gedeutet? Jeder historische Standpunkt, den die Vernunft einnahm, auch der kritische Vernunftsstandpunkt, schien, wenn er von einem höheren Vernunftsstandpunkt iiberflogen wurde, eine historische Epoche darzustellen, ein partieller Durchbruch fiir die Entwicklung hin zur Ubereinstimmung mit dessen eigener apriorischer Natur. Von dem absoluten Vernunftsstandpunkt aus gesehen, hatte es den Anschein, als ob damit auch „Kants Plan einer Geschichte im Weltbiirgerlichen Sinn“ einen Fortschritt im Verhältnis zur Vernunftsposition der Schulphilosophie darstellen wiirde. Aber da es der blofi kritischen Vernunft nicht gelang, sich iiber die Verstandesstufe der Gegensätzlichkeit zu erheben, konstatierte Schelling, daft der kantianische Standdas ideale Wesen der Vernunft widerspiegelte. Schelling driickte dies „Allein dieser Plan der Natur ist selbst nur der empiri- « 159 punkt nur folgendermafien aus: sche Widerschein der wahren Nothwendigkeit“. Aus der Sicht des absoluten Standpunktes mufite jede Objektivierung der einheitsschaffenden Kraft der Vernunft, mehr oder minder deutlich, die apriorische Natur der Vernunft ausdriicken. Dabei muftte folglich der historische Stoff als Bindeglied zwischen der Tätigkeit der Vernunft und Tätigkeit an sich dienen. Dieser Auffassung von der erkenntnistheoretischen Funktion der Erscheinung kam eine entscheidende Rolle fiir die Entwicklung der idealistischen Geschichtsphilosophie zu.'^° Damit wurde nämlich der lästigste Gegensatz in der kantianischen Vernunftsposition seiner Lösung zugefiihrt: der Antagonismus zwischen der idealen und der realen Seite der Vernunft wurde aufgelöst. Die Historizität der Vernunft wurde von Schelling stattdessen als der einzige Weg zu wahrer Erkenntnis iiber die transzendentale Bestimmung der Vernunft aufgefal^t. Im Absoluten werden die Gegensätze in einer dialektisch aufgebauten Synthese zwischen zwei pnnzipiell verschiedenen Polen vereinigt; das Absolute ist sowohl die erste Voraussetzung der Erkenntnis — aus der die schöpferische Kraft des Subjekts herriihrt — als auch das erste und nächste Objekt dieser Kraft: „Aber ebcn diese erste Voraussetzung aller Wissenschaften, jene wesentliche Schelling, aaO. S. 309. Hinsichtlich der „Erscheinung“ als sowohl F.indruck auf das Subjekt als auch Ausdruck fiir das Subjekt, siehe Kaulbach, aaO. S. 364. 1#>0 5
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