35 Zwecksetzungen der Erkenntnis wurde jedoch die Reichweite der kantianischen Vernunft auf den Bereich der Metaphysik begrenzt. Die philosophische Erkenntnis wurde auf diese Weise von den iibrigen Zweigen des groben Systems der Wissenschaft isoliert und vermochte ihre Aufgabe, die Wissenschaft aller Wissenschaften zu sein, nicht zu erfiillen. Da die philosophische Bestimmung die allgemeinste, einheitschaffende Kraft der Erkenntnis darstellen sollte, konnte die absolute Abgrenzung des Bereichs der Metaphysik, wie Kant sie durch seine Vernunftskritik durchzusetzen versuchte, nur in einer Katastrophe fiir die wissenschaftliche Tätigkeit resultieren. Durch die kopernikanische Wende in der Philosophie kristallisierten sich zwei direkt entgegengesetzte Ausgangspunkte fiir die wissenschaftliche Tätigkeit heraus: die abstrakte Reflexion der kritischen Vernunft und das rein empirische Erfahren des Verstandes. Diese Aufteilung verursachte, nach Schelling, nicht nur eine Spaltung des groben Systems der Wissenschaft, sondern sie stellte an sich einen Widerspruch imVerhältnis zu der urspriinglichen Absicht, die mit der Kritik der reinen Vernunft verbunden war, dar. Die explizite Zielsetzung von Kants Vernunftskritik war, eine Bestimmung der Vernunft zu finden und damit auch eine Definition des äubersten Ziels der Erkenntnis: von einem wahren Vernunftsstandpunkt aus konnte die wissenschaftliche Methode, gegriindet in den apriorischen Eigenschaften der menschlichen Vernunft, nur ein und dasselbe in alien Teilen des Systems der Wissenschaft sein. Die Gegensätzlichkeit zwischen der apriorischen und der aposteriorischen Position der Vernunft fiihrte jedoch dazu, dab sich eine uniiberbriickbare Kluft zwischen der formellen philosophischen Konstruktion und der Erfahrungserkenntnis öffnete. Schelling zog daraus die Schlubfolgerung, dab die Zersplitterung der Erkenntnis in zwei separate Teile zu einer Lähmung der Vernunftskräfte fiihren wiirde: „Eine blob empirische, auf Thatsachen beruhende, ebenso wie eine blob analytische und formale Philosophie, kann iiberhaupt nicht zum Wissen bilden; eine einseitige Philosophie wenigstens nicht zuni absoluten Wissen, da sie vielmehr fiir alle Gegenstände desselben nur einen eingeschränkten Gesichtspunkt bestimmt. 109 « 110 Aus dem Vorkommen von zwei verschiedenen Vernunftstandpunkten imgroben System der Wissenschaft ergaben sich zwangsläufig ernsthafte äubere Gegensätze. Das eigenartige Verhältnis zwischen der Wissenschaft an sich, der Metaphysik, und den Spezialwissenschaften, zu denen die blob kritische Vernunft Veranlassung gab, stellte einen von diesen, offenbar unlösbaren, Gegensätzen dar. 10‘J AaO. S. 267, Fn. 1; vgl. S. 214: „dcr Wissenschaft aller VC’issenschaftcn, der Philosophic". "" AaO. S. 272. Zwisehen diesen zwei wesensverschiedenen Vernunftsstandpunkten öffnete sich „ein breiter Graben". 4
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