29 Schelling teilte Kants Auffassung von der Natur des Stoffes: der Stoff war ein Chaos, eine uniiberblickbare Fiille vermengt mit zufälligen Strukturen. In diesem „weiten Ocean“^‘ muftte die Vernunft selbständig die Einheit herstellen, von der aus die Erfahrungserkenntnis von äufieren Zwecken gereinigt werden und ihre wahre Bestimmung erreichen konnte: „Was rechte, was wirkliche Erfahrung sey, mufi erst durch die Ideen bestimmt werden." Diese einheitschaffende erkenntnistheoretische Kategorie — die Idee — setzt notwendigerweise eine Relation zwischen Subjekt- und Objektwelt voraus, die die kantianische Vernunft als eine ungebiihrliche Beeinträchtigung der freien Zone der Vernunft auffassen mufite, denn, wie oben betont, der „bloB reflektirende Verstand begreift nur einfache Reihen und die Idee, als Synthesis von Entgegengesetztem, als Widerspruch“.^‘’ Infolgedessen wich die bloB kritische Vernunft von dem materiellen Erkenntnisbereich zuriick. In dem regelrechten Streit, der in der Kritik der reinen Vernunft zwischen Subjekt und Objekt ausgefochten wird, stand die kantianische Vernunft erst von da ab als Sieger da, als sie die Reichweite ihres Argumentationsgrundes zu einer rein formellen Bestimmung der Erkenntnis begrenzte. Die kopernikanische Wende in der Philosophie war fast ganz ein Sieg mit Todesfolge: „Wäre keine andere Erkenntnifi des Absoluten als die durch Vernunftschliisse, und keine andere Vernunft als die in der Formdes Verstandes, so miifiten wir allerdings auf alle unmittelbare und kategorische Erkenntnifi des Unbedingten und Ubersinnlichen, wie Kant lehrt, Verzicht thun. “ 75 Statt dessen mufite die Vernunft, um ihre Freiheit zu verteidigen und auszudehnen, eine allgemeine Relation schaffen, die es dem Erkenntnissubjekt ermöglicht, die Dynamik im Gegensatz zwischen zwei Polen auszunutzen. Schellings Definition von der wahren Relation betont auch folgerichtig deren Charakter von freiemUmgang zwischen unabhangigen Einheiten: „Jedes wahre Band, das Dinge oder Menschen vereinigt, mufi ein göttliches seyn, d.h. ein solches, wormjedes Gliedfrei ist, weil jedes nur das Unbedingte “ 76 will. Die wahre Bestimmung eines Gegensatzes wurde also nicht, wie Kant meinte, von der unlösbaren Gegensätzlichkeit - der Systematik, „worin alles Organ ist“, ausgemacht, vielmehr sollte die natiirliche Fremdheit zwischen Gegensatzen mderen gemeinsamen Ursprung, dem Absoluten, versöhnt werden. Schclling, aaO. S. 230, vgl. S. 211: „dcn cines Chaos, in dem er noch nichts unterscheidet, oder eines weiten Ozeans, aut den er sich ohne Compals und Leitstern vcrsetzt sieht". AaO. S. 230. AaO. S. 267. A.iO. S. 270. Vgl. S. 269 f. AaO. S. 260 (meine Hervorhebung).
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