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18 tat der philosophischen Erkenntnis dar; dies bedeutete indessen nicht, daft die Metaphysik die Systematik der einzelnen Wissenschaften vorschrieb - vielmehr spielte die kantianische Metaphysik die Rolle der „Grundwissenschaft“/' die die Bestimmung der äuftersten Grenze und allgemeinsten Struktur der Erkenntnis zur Aufgabe hatte: „Sie ist ein Tractat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriss derselben, sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch des ganzen inneren Gliederbaus derselben. Denn das hat die reine speculative Vernunft Eigenthiimliches an sich, dass sie ihr eigen Vermögen nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objecte zum Denken wählt, ausmessen und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben vorzulegen, vollständig vorzählen und so den ganzen Vorriss zu einem System der Metaphysik verzeichnen kann und soil. Diese Auffassung von der Aufgabe der Metaphysik in Kombination mit dem Wissenschaftsbegriff der kopernikanischen Wende fiihrt mithin prinzipiell zu einer ausschlieftlich formellen — leeren - Wissenschaftlichkeit, die die Vernunft nur mit nicht notwendigen, atheoretischen Sätzen ausfiillen kann: „Und bei einem solchen Verfahren hat uns die speculative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen musste, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn tvir können, auszufiillen." Dieses gegensätzliche Verhältnis zwischen der theoretischen und der praktischen Tätigkeit der Vernunft ist ein durchgehender Zug in der kantianischen Erkenntnistheorie und prägte vor allem die Relation der Metaphysik zu den empirischen Wissenschaftszweigen. Die Metaphysik war, nach Kant, allerdings an sich unbedingt und damit von aller Erfahrungserkenntnis isoliert. Da metaphysische Erkenntnis nach der kopernikanischen Wende nur durch die Erkenntnis iiber den eigenen Zweck der Wissenschaft gebiidet werden konnte, hätte dies bedeuten miissen, daft die Metaphysik als Wissenschaft an sich so aufgefaftt wurde, daft sie einen Charakter hat, der der materiellen Systematik der empirischen Erkenntnisarten direkt entgegengesetzt war. Diese Schluftfolgerung bestritt Kant allerdings: „Die Kritik ist nicht dem dogmatischen Verfahren der Vernunft in ihrer reinen Erkenntniss als Wissenschaft entgegengesetzt (. . .), sondern dem Dogmatismus d.i. der Anmassung, mit einer reinen Erkenntniss aus Begriffen (der Philosophischen), nach Principien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, wodurch sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen. Dogmatismus ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens. ■*' AaO. S. 25, vgl. S. 26 („als Grundwissenschaft"). Eine Dar.stellung der traditionellen Rolle der Metaphysik als Haupt und Grundwissenschaft gibt Kaulbach, Friedrich, EinfUbrung m die Metaphysik, S. 200. Kant, aaO. S. 25. AaO. S. 24. AaO. S. 33. “42 « 44

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