132 Hilfe von blofi formellen Kategorien nicht beherrschen konnte, wurde resolut verlassen und damit zu einem ungeregelten Schlachtfeld fiir zufällige äuftere Zwecke und Utilitätsriicksichten verwandelt. Eine wahrlich freie Vernunft, die es praktisch vermochte ihren Anspruch auf absolute Hegemonie in dem ganzen möglichen Wissensgebiet aufrecht zu erhalten, konnte sich dagegen nicht erlauben, sich vor der Unmöglichkeit, eine Einheit im Stoff durch formelle Kategorien zu schaffen, zuriickzuziehen. Wirklich emanzipiert war die Vernunft erst, als sie selbständig - frei — die Reichweite ihrer ordnenden und bildenden Kraft bestimmen konnte. Nur die Vernunft, die „sich von sich selbst aus begrenzt", das heifit, ihren Gegenstand - die Objektwelt - nach ihrem eigenen wahren Ziel zu organisieren, und die sich nicht von äufieren Zwecken oder ihremeigenen Unvermögen, ihr eigenes Ziel zu bestimmen und zu erfiillen, besiegen läfit, konnte wirklich frei genannt werden. Die Vernunft, die auf diese Art frei und ohne Zwang ihre Eigenart bestimmte und deren Wirkungsbereich, im Gegensatz zu der blofi kritischen Vernunft, war auch absolut. Vor diesem Subjekt mufi die ganze Objektwelt als ein Ausdruck fiir die innere Kraft der Vernunft dienen. Wenn die Vernunft einen absoluten Ståndpunkt erreicht hat, ist es dem Subjekt möglich, sich selbst ohne Widerspriiche reflexiv aufzufassen, als ihren eigenen und alleinigen Gegenstand. Diese grundlegende Identität zwischen Vernunft und Natur wurde gleichzeitig als der notwendige Grund, als das bewufit angestrebte Ziel fiir alle intellektuellen Ausdriicke, aufgefaEt. Diese im 19. Jahrhundert allgemein verbreitete Auffassung erhält ihren vielleicht schönsten und einleuchtendsten Ausdruck in der Oper Tristan und Isolde von Richard Wagner, in der das Liebespaar danach strebte, sich selbst als die Welt in ihrer Ganzheit verstehen zu können. Die Phrase „selbst dann bin ich die Welt“^^ gibt einen enthiillenden Ausdruck fiir die theoretische Voraussetzung der Macht der Vernunft, Gefahren von aufieren Zwecken im Stoff abzuwehren. Nur durch die angenommene Identität zwischen Vernunft und Natur konnte die Vernunft zu der Position gelangen, in welcher sie, ebenso wie ihr Ausdruck, die Philosophie, frei war. Der notwendige erkenntnistheoretische Grund fiir die Bestimmung einer absoluten Vernunft und damit die Voraussetzung einer Einheit innerhalb des grol^en Systems der Wissenschaft wurde erst durch die Bestrebungen der nachWagner, Richard, Tristan und Isolde. Handlung in drci Aufziigen, 2. Aufzug, 2. Szene. Diese Passage kann mit einem anderen Ausdruck dieses neuhumanistisch geprägten Oranges nach Universalität der Seele verglichen werden, und zwar mit dem Wunsch Goethes, seme Persönlichkeit in der Lebenstotalität realisiert zu finden: „Zum Universum möcht’ ich mich erweitern“ (zit. aus Schnabel, Franz: Deutsche Geschichte imneunzehntenJahrhundert, S. 211 f.), vgl. auch mit Schelling, Methode des akademischen Studiums, S. 232. Was die Beziehung zwischen dem Neuhumanismus und der Gedankenwelt Savignys angeht, siehe Schaffstein, Friedrich, F.C. von Savigny und Wilhelmvon Humboldt (vgl. Riickert, aaO. S. 46 f.). Siehe auch Wieacker, aaO. S. 256 f.
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