402 sollte das Disziplinarrecht Straftaten vorbeugen, indem es eine vermutlich kriminelle Entwicklung korrigierte, bevor sie sich zu vollendeter Kriminalität entfaltet hatte. Erst bei erheblichen Abweichungen von dem gcgebenen Normsystem war der Zeitpunkt gekommen, an dem das militärische Kriminal- und Polizeirecht unter den gleichen Voraussetzungen eingreifen sollte, wie sie vom allgemeinen Strafrecht vorgeschrieben wurden. Man kann natiirlich die Frage stellen, ob dieses paternalistische Disziplinrecht in der Praxis denselben Einwendungen ausgesetzt war, die Livijn selbst gegen die Autonomisierung des Militärstrafrechts und gegen die Ehrengerichtsbarkeit vorgebracht hatte; in beiden Fällen war ja denkbar, daB das Rechtssystem unzulässige Eingriffe in die Integritat des Einzelnen zulieB. Ein derartiger Ståndpunkt ist jedoch nicht korrekt. Kurz gesagt liegt der Unterschied zwischen den Vertretern der Autonomisierung und Livijn darin, daB die ersteren die Normen des Militärstrafrechts als teilweise völlig unabhängig von der — etwas unpräzise ausgedriickt — Rechtskultur der Nation verstanden, während Livijn die Möglichkeit einer derartigen Unabhängigkeit bestritt. Livijn erschient es als selbstverständlich, daB das Militärrecht vollen Umfangs mit den gesellschaftlichen Rechtsvorstellungen harmonieren muBte, so wie diese letztlich in den Verfassungsgesetzen zum Ausdruck kamen. Im Gegensatz zu seinen Gegnern empfahl Livijn deshalb, die Gesetzgebungskompetenz fur den Bereich des Militärstrafrechts dem König und den Ständen gemeinschaftlich zuzuweisen. Er empfahl weiter, Beschwerden gegen Bestrafungsentscheidungen von Rekonventionsdrohungen der Vorgesetzten unabhängig zu machen und eine wirksame Kontrolle der auBergerichtlichen Strafhoheit nach dem Muster der Kontrolle der gerichtlichen einzurichten. In dieser letzten Hinsicht war Livijn seiner Zeit mindestens cin halbes Jahrhundert voraus. Die Priigelfrage wurde zu einem wiederkehrenden Thema auf der Tagesordnung der im Reichstag vertretenen Stände. Wiederholt stieB sie in den Ständevertretungen der Burger und der Bauern auf kompakten Widerstand; dennoch wurde der Kampf gegen diese Strafe nicht unmittelbar imReichstag, sondern während der weiteren Arbeit an Gesetzesentwiirfen gewonnen, die die Kriegsgesetzgebung von 1868 vorbereiteten. Besondere Schwierigkeiten ergaben sich fiir die Befurworter einer Reform bei der Frage des Ersatzes fiir die Leibesstrafen. Fiir sie muBten Ersatzstrafen gefunden werden, die sofort zu vollziehen waren, deren Vollstreckung binnen kurzer Zeit abgeschlossen war und die auBerdem nachdriickliche Wirkunghatten. In demKriegsgesetzgebungskomitee, das 1846 die Arbeit des erweiterten Kriegshofgerichts und dessen Akten — u.a. mit den Denkschriften und
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