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SKRIFTER UTGIVNA AV INSTITUTET FÖR RÄTTSHISTORISK FORSKNING GRUNDAT AV GUSTAV OCH CARIN OLIN SERIEN / RÄTTSHISTORISKT BIBLIOTEK TJUGOSJÄTTE BANDET A.-B. NORDISKA BOKHANDELN, STOCKHOLM I DISTRIBUTION

SKRIFTER UTGIVNA AV INSTITUTET FÖR RÄTTSHISTORISK FORSKNING GRUNDAT AV GUSTAV OCH CARIN OLIN

SKRIFTER UTGIVNA AV INSTITUTET FÖR RÄTTSHISTORISK FORSKNING GRUNDAT AV GUSTAV OCH CARIN OLIN SERIEN I RÄTTSHISTORISKT BIBLIOTEK TJUGOSJÄTTE BANDET A.-B. NORDISKA BOKHANDELN, STOCKHOLM I DISTRIBUTION

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Das Geständnis in der schwedischen Prozessrechtsgeschichte L Bis 2ur Griindung des Svea Hofgerichts I6l4 Göran Inger A.-B. Nordiska Bokhandeln, Stockholmin Distribution

Gedruckt mit Unterstutzung des Staatlichen Rates fiir Sozialforschung, Stockholm. ISBN91-85190-06-3 ©Göran Inger Sats: 10712' Garamond Tryck: Bloms Boktryckeri AB, Lund 1976

Inhaltsverzeichnis Vorwort 11 Einleitung 13 Kap. 1. Das Geständnis im römisch-kanonischen Recht . 17 Kap, 2. Das Geständnis imschwedischen Recht des Mittelalters , . I. A, ProzeBformen nach den mittelalterlichen Landschaftsrechten B. Das Geständnis im Eideshelfer- und GeschworenenprozeB 1. Das Geständnis und der wo?ori«w-Begriff im Eideshelfer- und GeschworenenprozeB . . . . 2. Das Geständnis im EideshelferprozeB . . , . 3. Das Geständnis im GeschworenenprozeB . 4. Confessio iudictalis et confessio extraiudicialis 5. Riicknahme und Änderung eines Geständnisses 6. Geständnis vor Gericht durch Vertreter und ProzeBfähigkeit C. Das Geständnis in der kirchlichen Rechtsprechung D. Zusammenfassung der Bestimmungen der Landschaftsrechte E. Die ProzeBformen nach dem iibrigen zeitgenössischen Urkundenmaterial F. Das Geständnis in sonstigen zeitgenössischen Urkunden IL A. Die ProzeBformen des spätmittelalterlichen schwedischen Rechts B, Theokratische Weltanschauung nach spätmittelalterlichem schwedischem Recht C. Der notormm-Begrifi im spätmittelalterlichen schwedischen Recht 47 47 55 56 58 62 66 71 71 78 81 83 87 89 91 92

8 D. Das Geständnis im spätmittelalterlichen schwedischen Recht 1. Gerichtsstand und confessio iudicialis et confessio extraiudicialis nach spatmittelalterlichem schwedischem Recht 2. Riicknahme oder Änderung eines abgelegten Gestandnisses 3. Gerichtliches Geständnis dutch Stellvertreter und ProzeBfähigkeit nach spätmittelalterlichem schwedischem Recht 4. Appellationsmöglichkeiten nach Ablegung eines Geständnisses nach spätmittelalterlichem schwedischem Recht E. ProzeBformen nach spätmittelalterlichem schwedischemUrkundenmaterial F. Das Geständnis nach spätmittelalterlichem schwedischem Urkundenmaterial 1. Geständnis ohne Zwang 2. Richtiger Gerichtsstand 3. Confessio iudicialis et confessio extraiudicialis 107 4. Geständnis dutch Stellvertreter 5. ProzeBfähigkeit G. Religiöse Aspekte des Geständnisses und theokratische Weltanschauung H. Kirchenrecht und Rechtspraxis I. Geständnis mit gleichzeitigen Einwendungen . . . 114 J. Zusammenfassung der Untersuchung des Geständnisses immittelalterlichen Rechts Schwedens . . . 115 Kap. 3. Das Geständnis im späteren römisch-kanonischen und im deutsch-römischen Recht A. Das Geständnis im späteren römisch-kanonischen Recht 117 B. Das Geständnis im deutsch-römischen Recht . . . . 128 C. Das lutherische Verständnis der Beichte und BuBe und sein EinfluB auf das Geständnis Kap. 4. Das Geständnis im schwedischen ProzeBrecht vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Einrichtung des Svea Hofgerichts im Jahre 1614 A. Die Stellung der Beichte und BuBe in der schwedischen Kirche nach der Reformation in Schweden und eventuelle Einfliisse reformatorischer Gedanken auf die Entwicklung des Geständnisses 94 95 97 97 100 101 102 106 107 110 110 112 113 117 151 155 156

9 B. Der ProzeB im 16. Jahrhundert und zu Beginn des 17, Jahrhunderts C. Das Geständnis im schwedischen ProzeBrecht im 16. Jahrhundert und zu Beginn des 17. Jahrhunderts . . . 173 D. Beweismittel, Bewertung von Beweismitteln und notoriwm-Begriff 1. StrafprozeB 2. ZivilprozeB E. Rechtlich-qualitative Anforderungen an das Geständnis sowie Rechtsfolgen der Ablegung eines Geständnisses 180 1. Richtiger Gerichtsstand 2. Confessio iudicialis et confessio extraiudicialis . . 181 3. Geständnis ohne Zwang 4. Confessio contra se 5. Riicknahme und Änderung eines Geständnisses . 6. Appellation nach Ablegung eines Geständnisses , 7. Geständnis durch Stellvertreter 8. ProzeBfähigkeit F. Bedingte Verurteilung —Aussetzung der Entscheidung — Bekenntnisgefangene G. Theokratische Weltanschauung — Christliche Lebensauffassung — Kirchliche Seelsorge H. Zusammenfassung der Darstellung der prozeBrechtlichen Entwicklung des Geständnisses vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Griindung des Svea Hofgerichts 1614 165 174 174 179 180 186 214 . 214 . 215 216 216 222 227 230 Zusammenfassung 235 Indices Quellen- und Literaturverzeichnis 244 Abkiirzungen 263 Personen 265 Sachen 267

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Vorwort Bei dieser Veröffentlichung der Ergebnisse meiner Forschungen zur Rolle des Geständnisses im schwedischen ProzeBrecht vom Mittelalter bis zum Jahre 1614 ist es mir ein Bediirfnis, all jenen Privatpersonen und Institutionen meinen Dank auszusprechen, die mich auf unterschiedliche Weise bei meiner Arbeit unterstutzt und so das Zustandekommen dieses Buches ermöglicht haben. Fiir wertvolle Hilfe bei Exzerpierungen aus ungedruckten Urteilsbiichern danke ich Fil. mag. Thomas Aurelius und Fil. kand. Thomas Lindkvist, Britt Nyberg und Monika Sällström. Fiir die Ubersetzung meines schwedischen Textes in die deutsche Sprache danke ich Dr. jur. Fians-FIeinrich Vogel und fiir mancherlei wertvolle Flilfe bei der Abschrift meines handschriftlichen Manuskripts meiner Frau Margret. Meine Untersuchung wurde weitgehend durch Forschungszuschiisse des schwedischen Staatlichen Rates fiir Sozialforschung ermöglicht, und schlieBlich hat das von Gustav und Garin Olin gegrundete Institut fur rechtshistorische Forschung den Druck und die Veröffentlichung meines Werkes ubernommen. Diesen beiden letztgenannten Institutionen schulde ich tiefen Dank. Lund, den 1. Juni 1976 Göran Inger

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Einleitung Diese Arbeit soil zu erklaren versuchen, welche Rolle das Geständnis im schwedischen ProzeCrecht seit dem Mittelalter vor allem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gespielt hat, als man in der Praxis von einer starr gebundenen zur freien Beweiswiirdigung iiberging. Die letzten Spuren der durch Gesetzesregeln gebundenen Beweiswiirdigung verschwanden jedoch erst 1948 mit dem Inkrafttreten eines 1942 verkiindeten und auch heute noch geltenden neuen ProzeBrechtsteils des Allgemeinen Gesetzbuches aus dem schwedischen Recht. Ich beabsichtige deshalb, spater auch noch die weiter Entwicklung bis 1948 zu schildern. Eine Untersuchung der Rolle des Geständnisses im schwedischen ProzeBrecht muB zwangsläufig sehr umfassend sein und wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich habe mich deshalb entschlossen, meine Untersuchungsergebnisse in zwei Teilen zu veröffentlichen. Der erste Tell soil die Entwicklung bis zur Einrichtung des Svea Hofgerichts im Jahre 1614 und der zweite die Entwicklung nach 1614 bis 1948 darstellen. Diese zwei Teile ergänzt eine selbständige Spezialuntersuchung des Instituts der Gefangensetzung zur Erzwingung eines Geständnisses in der Geschichte des schwedischen ProzeBrechts. Selbstverstandlich setzt sie diese umfassendere Untersuchung des Geständnisses fort, betrifft aber gleichzeitig eine so spezielle Erscheinung im schwedischen ProzeBrecht, daB es mir richtig erscheint, die Gefangensetzung zur Erzwingung eines Geständnisses gesondert zu behandehi. Die Entwicklung des Geständnisses imälteren schwedischen ProzeBrecht kann man nicht verstehen oder erklären, ohne sich viber die Einfliisse ausländischen Rechts im klaren zu seln, die im Laufe der Jahrhunderte im schwedischen zum tragen kamen. Ich will deshalb das Institut des Geständnisses vor allem im römisch-kanonischen Recht und danach auch im deutsch-römischen Recht untersuchen und beschreiben. Diese Rechtssysteme formulierten und entwickelten nämlich die gesetzlichen Beweisregeln, die später auch imschwedischen Recht rezipiert wurden. Vor demHintergrund dieser ausländischen Rechtssysteme werde ich dann die Entwicklung des Geständnisses im schwedischen Recht zu zeichnen versuchen.

14 Weiter besteht unzweifelhaft ein Zusammenhang zwischen einerseits der Bewertung des Gestandnisses im ProzeBrecht und andererseits der Bewerrung des Bekenntnisses im Beicht- und BuBinstitut der Kirche sowie der religiösen Lebensanschauung schlechthin. Ich will deshalb auch diese Problematik während der Jahrhunderte des Katholizismus und später des Protestantismus analysieren und beschreiben. Zur Entwicklung des romisch-kanonischen und deutsch-römischen ProzeBrechts, das meine Untersuchung der Verhältnisse vor 1614 betrifft, hat die auslandische Forschung dieses und des vorigen Jahrhunderts eine Vielzahl von scharfsinnigen und griindlichen Arbeiten hervorgebracht. Von den älteren seien genannt: C. Gross, Die Beweistheorie imcanonischen ProceB I—II, 1867 und 1880, N. Munchen, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, 1874, W. Endemann, Die Beweislehre des Civilprozesses, 1860, C. I. A. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse, 1834, F. A. Biener, Beiträge zu der Geschichte des Inquisitions-Processes und der Geschwornen-Gerichte, 1827, E. BrunnenMEisTER, Die Quellen der Bambergensis, 1879, J. Kohler, Die Carolina und ihre Vorgängerinnen, 1900, sowie G. W. Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 1878. Von den während dieses Jahrhunderts veroffentlichten Werken seien genannt H. U. Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, 1907, S. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre, 1935, E. Schmidt, InquisitionsprozeB und Rezeption, 1941, P. Koschaker, Europa und das römische Recht, 1947, H. Krause, Kaiserrecht und Rezeption, 1952, H, Going, Römisches Recht in Deutschland, 1964, E. Schmidt, Einfuhrung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1965, F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, E. Döhring, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege seit 1500, 1953, R. VON Hippel, Deutsches Strafrecht, 1925, sowie die fiir diese Arbeit auBerordentlich wertvollen Arbeiten von J. Ph. Levy, La hierarchie des preuves dans le droit savant du moyen-age depuis la renaissance du droit romain jusqu’a la fin du XIV® siecle, 1939, und Le probleme de la preuve dans des droits savants du moyen-age, 1965. Der folgenden Darstellung des Instituts des Gestandnisses im römischkanonischen und im deutsch-römischen Recht liegen vor allem diese Arbeiten, natiirlich aber auch eigene Quellenforschung zu grunde. Die ältere schwedische ProzeBrechtsgeschichte ist wie die römisch-kanonische und deutsch-römische Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten gewesen. An älteren Werken können erwähnt werden W. Uppström, öfversigt af den svenska processens historia, 1884, K. H. Karlsson, Den svenska konungens domsrätt och formerna för dess utöfning under medeltiden, 1890, sowie L. B. Bååth, Den kanoniska rättens historia i Sverige, 1905. Gute iibersichtliche Darstellungen der Entwicklung des schwedischen

15 ProzeCrechts findet man weiter in J. E. Almquist, Svensk rättshistoria I, Processrättens historia, 1962, und in den Einleitungen zu den von Ä. Holmbäck und E. Wessén besorgten Textausgaben Svenska landskapslagar, 1933—1946, sowie Magnus Erikssons landslag, 1962, und Magnus Erikssons stadslag, 1966. Weiter seien hier erwähnt Ä. Holmbäck, Våra domarregler, 1928, J. E. Almquist, Domareregler från den yngre landslagens tid, 1951, J. E. Almquist, Tvenne förut otryckta juridiska skrifter av Olaus Petri, 1937, sowie G. Schmidt, Die Richterregeln des Olavus Petri, 1966. An Spezialuntersuchungen seien genannt K. G. Westman, Den svenska nämnden, dess uppkomst och utveckling, 1912, und E. CarlQUiST, Studier i den äldre svenska bevisrättens utveckling med särskild hänsyn till institutet erkännande, 1918; die letztgenannte Arbeit behandelt also dasselbe Thema, das auch im Zentrum dieser Arbeit steht. Einer der Griinde, die mich zu einer erneuten Untersuchung des Instituts des Geständnisses auch in der älteren schwedischen ProzeBrechtsgeschichte veranlaBt haben, ist der Umstand, daB Carlquist meines Erachtens die Fragen des Verhältnisses zwischen ausländischen Rechten römisch-kanonischen und deutsch-römischen Recht — und dem schwedischen Recht sowie des Einflusses dieser ausländischen Rechte auf die Entwicklung des Geständnisses im schwedischen Recht nicht hinreichend detailliert behandelt. Ein zweiter Grund liegt darin, daB ich meine, bei der Untersuchung des Geständnisses von umfassenderen Quellen ausgehen zu miissen, um ein soweit möglich wahreres und nuancenreicheres Bild der Rechtsentwicklung zeichnen zu können. Ich habe mich bei meiner Arbeit deshalb zum einen auf das bisher gedruckte Material der Gerichte des Mittelalters, des 16. Jahrhunderts und des Beginns des 17. Jahrhunderts, sowie zum zweiten auf noch nicht im Druck veröffentlichte Urteilsbiicher von Gerichten in Dalarna, Västmanland, Västergötland und Östergötland aus dem 16. und 17. Jahrhunderts gestiitzt. Fiir meine Arbeit auBerordentlich interessante Untersuchungen sind auch veröffentlicht von H. Munktell, Tortyren i svensk rättshistoria, 1940, J. Rosén, Studier kring Erik XIV:s höga nämnd, 1955, und A. Ranehök, Centralmakt och domsmakt, 1975. Wie das römisch-kanonische und das deutsch-römische Recht ist auch das kirchliche Beicht- und BuBinstitut sowohl im Katholizismus als auch im lutherischen Protestantismus vielfach eingehend und griindlich von schwedischen und ausländischen Wissenschaftlern untersucht worden. Es seien hier erwähnt R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, III und IV, 1930 und 1933, P. Anciaux, La théologie du sacrement de pénitence au XII® siécle, 1949, S. Kjöllerström, Striden kring kalvinismen i Sverige under Erik XIV, 1935, Enskilt och allmänt skriftermål i historisk belysning, 1940, Svenska förarbeten till kyrkoordningen av år 1571, 1940, vor allem dem

16 und Guds och Sveriges lag under reformationstiden, 1957, Å. Andrén, Nattvardsberedelsen i reformationstidens svenska kyrkoliv. Skriftermål och fasta, 1952, H. Lyttkens, Biktens teologiska motivering, 1958. R. Holte, Bikt och avlösning enligt de lutherska bekännelseskrifterna, 1963, S. Ingebrand, Olavus Petris reformatoriska åskådning, 1964, I. Öberg, Himmelsrikets nycklar och kyrklig bot i Luthers teologi 1517—1537, 1970, Å. Andrén, „Timelig kyrkonäpst“. Kyrkoordningen 1571 och den uppenbara skriften, 1971, und R. Persson, Johan III och Nova Ordinantia, 1973. Meine Darstellung der rechtlichen Ausgestaltung der Beichte und BuBe im Katholizismus und Luthertum grunden sich deshalb auf die Untersuchungen, die diese Verfasser veröffentlicht haben. Das Spezifische meiner Arbeit soil der Versuch des Nachweises sein, wie die Wertung des Bekenntnisses im Rahmen der Beichte und BuBe die Wertung des Geständnisses als Beweismittel im ProzeBrecht beeinfluBt hat und wie die religiöse Weltanschauung ganz allgemein die rechtliche Ausbildung des Geständnisses geprägt hat. Das Ziel dieses ersten Teils meiner Arbeit iiber das Geständnis in der schwedischen ProzeBrechtsgeschichte soil also soweit möglich eine im Verhältnis zu friiheren Arbeiten tiefer schiirfende Untersuchung der Rolle des Geständnisses in der älteren schwedischen ProzeBrechtsgeschichte bieten. Dabei soil festzustellen versucht werden, wie weit die Entwicklung des Geständnisses unter dem EinfluB von ausländischen Rechten — vor allem des römisch-kanonischen und des deutsch-römischen Rechts — gestanden hat und wie weit in ihr religiöse Gedanken zum Niederschlag gekommen sind.

Kap. 1. Das Geständnis im römischkanonischen Recht Das Geständnis erhielt vor allem aus zwei Grunden eine zentrale Rolle im kanonischen Recht des Hochmittelalters. Bestimmend waren zum einen die Entwicklung des Instituts der Beichte und BuBe und zum anderen die Einfiihrung des inquisitorischen Verfahrens in den ProzeB. Auch im weltlichen Recht machten sich hinsichtlich des Geständnisses Einfliisse des kanonischen Rechts und zeitgenössischer kirchlicher Lehren geltend; denn dieselben Rechtsgelehrten beschäftigten sich sowohl mit kanonischem als auch mit dem römischen Recht oder aber sie arbeiteten mit Vertretern der benachbarten Disziplin eng zusammen. SchlieBlich war im iibrigen ein theologisches Verständnis der Macht des weltlichen Fursten und des Richteramtes völlig vorherrschend. In den ältesten christlichen Gemeinden hatte eine auBerordentlich strenge Kirchenzucht gegolten, die u. a. verlangte, daB getaufte Personen, die sich schwere Sunden hatten zu schulden kommen lassen, nicht wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen werden konnten.^ Im 3. und den folgenden Jahrhunderten wurde die Disziplin jedoch allmählich gemildert. Es wurde möglich, BuBe zu tun und Vergebung fiir solche Sunden zu erhalten, die nach der Taufe begången worden waren — sogar bei Todsiinden, d. h. Unzucht, Mord und Abfall von der Lehre. Gestutzt wurde die Kirchenzucht auf die in Matth. 18,15—17 enthaltenen, ins einzelne gehenden Bestimmungen, wie man mit einem siindigenden Mitglied der Gemeinde verfahren solle. Matth. 16,19 und Joh. 20,23 wurden ^ Zur Ausgestaltung der Kirchenzucht vom Urchristentum bis zum Hochmittelalter siehe u. a. B. Poschmann, BuBe und Letzte ölung, 1951, Kap. 1—2 m. w. H. Siehe weiter J. Gallén, Botsakramentet, Artikel in Kulturhistoriskt lexikon för nordisk medeltid, II, 1957; H. Vorgrimler, BuB-Sakrament, Artikel im Handbuch theologischer Grundbegriffe, I, 1962, m. w. H.; W. Seibel, Bekenntnis, Artikel im Handbuch theologischer Grundbegriffe, I, 1962; R. Holte, Bikt och avlösning enligt de lutherska bekännelseskrifterna, 1963, S. 190 f.; H. Lyttkens, Biktens teologiska motivering, 1958, S. 97 ff.; I. ÖBERG, Himmelrikets nycklar och kyrklig bot i Luthers teologi 1517—1537, 1970, S. 205 ff., 446 ff. 2 - Inger

18 andererseits fur die Befugnis der Kirche genannt, einen Menschen an seine Siinde zu binden bzw. ihn von ihr zu lösen, die sogenannte Schliisselgewalt, potestas claviumr Im BuBsakrament dachte man sich den Sunder vor einem Gericht, das von Gott selbst eingerichtet war. Durch das BuBsakrament erhielt der Sunder Gottes Vergebung fiir seine Siinden, wurde von den ewigen Siindenstrafen gelöst und wieder in den Zustand der Gnade aufgenommen. Der Zugang zu den Gnadengaben des BuBsakraments setzte allerdings voraus, daB der Sunder durch wahre Reue, contritio, Bekenntnis, confessio, und den Vorsatz, gutzumachen und sich zu bessern, seine Bereitschaft zu wahrer BuBe bestätigte. Zu einer wichtigen Änderung im BuBwesen und in der Kirchenzucht kam es durch die Einfiihrung der Privatbeichte. Sie wurde im Zusammenhang mit der Entstehung des Mönchtums von Kleinasien nach Gallien und Britannien sowie von dort in die Länder nördlich der Alpen getragen. Die Privatbeichtgebräuche der Mönche wurden hier auf Laien iibertragen. Sie wurden im6. und 7. Jahrhundert dazu angehalten, besonders vor jedem Abendmahlsgang einem Pfarrer ihre schwereren Siinden zu beichten. In der fränkischen Kirche war es offenbar zur Zeit der Karolinger nicht nur Sitte, sondern in gewissem Umfang sogar eine Verpflichtung, daB jeder Laie einmal oder mehrfach jährlich zur Beichte gehen sollte.^ Durch diese Privatbeichte erhielt im 8. Jahrhundert auch das eigentliche Bekenntnis eine zentralere Stellung, selbst wenn man die Wiedergutmachung immer noch als das wichtigste ansah. Das Bekenntnis wurde sogar als solches als eine Art Wiedergutmachung angesehen. Man dachte hierbei an Selbstuberwindung, Schmerz, Reue und Scham, die mit der eigentlichen Beichte verbunden waren.'^ Das Wort confessio wurde im iibrigen im 11. Jahrhundert nicht nur fur das Bekenntnis dem Pfarrer gegenuber, sondern auch fiir das kirchliche BuBsakrament iiberhaupt gebraucht.^ “ G. Inger, Das kirchliche Visitationsinstitut ini mittelalterlichcn Schweden, 1961, S. 31. Siehe hierzu auch I. Öberg, Himmelrikets nycklar och kyrklig bot i Luthers teologi 1517—1537, 1970, S. 41 ff. * Z. B. Chrodegangs Regel um XIV und XXXIV, Migne LXXXIX, col. 1104 und 1118. Theodulf von Orleans (um 800), cap. I, c. XXXVI, Migne CV, col. 203. Abt Regino zu Priim (Ende des 9. Jahrhunderts). De ecclesiasticis disciplinis et religione christiana, Migne CXXXII, col. 285. Alkuin (zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts) in mehreren seiner Briefe, Migne C. •* Thomas ab Aquino, Summa Theologica, III, suppl. q 10, a 2. P. Anciaux, La théologie du sacrement de penitence au XID siecle, 1949, S. 33; Poschmann, BuBe, S. 75; R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, III, 1930, S. 101. — Diese Betrachtungsweise war im iibrigen nicht neu, sondern war schon in der ältesten christlichen Kirche aufgetreten. — Siehe auch C. Gross, Die Beweistheorie im canonischen Process, 1867, I, S. 96; C. 1. A. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse, 1834, S. 236. 760, cap. XXXII, Migne LXXXIX, col. 1072; cap. ® Anciaux La théologie, S. 31 f.; Seeberg, Lehrbuch, III, S. 99 f.; Seibel, Bekenntnis,

19 Zum Verständnis der Bedeutung dieser Beicht- und BuBregeln fiir die rechtliche Entwicklung des Geständnisses in den folgenden Jahrhunderten sei nur an die Verbreitung und den EinfluB der Schriften Augustinus’ bei der Verbreitung des Christentums im Westen vor alleni durch die kirclilichen Reformbewegungen im 10. und 11. Jahrhundert erinnert. Nach Ansicht des Hochmittelalters hatten auch die weltlichen Herren ihre Macht und ihren Auftrag von Gott erhalten.** Mit dem Bekanntwerden der augustinischen Lehrsätze stellte sich ohne Zweifel ein vertieftes SchuldbewuBtsein und ein intensives Bemiihen um Vergebung ein. Nach Augustinus gehören wir Menschen entweder Gott oder dem Teufel. Nie können wir neutral sein, und alle sind wir vor Gott verantwortlich und werden uns einmal am Tage des jiingsten Gerichts fiir unser Leben und unsere irdischen Vorhaben verantworten miissen. Der Sunder, der bereut, seine Sunden bekennt und zur Wiedergutmachung bereit ist, kann Absolution erhalten und wieder in den Zustand der Gnade aufgenommen werden. Wer in Siinde verstockt ist, bleibt fiir alle Ewigkeit in sie verstrickt." In der Kirche lehrte man damals, wie Christus den Aussätzigen befehle, sich den Priestern zu zeigen, so fordere er auch, daB sich die Siinder den Dienern der Kirche, den Pfarrern, zeigen.** Wer gesiindigt hat, muB seine Siinde bekennen. Das Bekenntnis ist notwendig fiir die Erlangung der Seeligkeit.** Durch das Bekenntnis kann die Siinde vergeben werden. Im äuBersten Notfall reicht jedoch das Bekenntnis vor Gott aus.*** Der Wunsch des Siinders zu beichten, die Reue seines Herzens, reichen aus fiir ein wahres Bekenntnis.Diese Auffassung der Beichte gestattete die Zulassung der Beichte gegeniiber einer Person, die nicht die priesterlichen Weihen erhalten hatte. Nachdem die Beichte und BuBe dann aber im Hochmittelalter endgiiltig zu den sicben Sakramenten der Kirche gerechnet wurde,*- wurde S. 159. So spricht Petrus Damiani von einem sacramentiim confessionis, Migne CXLIV, col. 901. Derselbe Ausdruck kommt auch bci Erzbischof Lanfranc von Canterbury vor, Migne CL, col. 625—626. ® Inger, Visitationsinstitut, S. 15, 33 ff. — Zum Denken des schwedischen Mittelalters siehe DS 71 und 102, wo der Gedanke eines Königtums von Gottes Gnaden deutlich zum Ausdruck kommt. Die Vorreden zum Upplandslag und Södermannalag drucken diesen Gedanken ebenfalls aus. —L. M. Bäåth, Bidrag till den kanoniska rättens historia i Sverige, 1905, S. 105 und 113. ’’ Siehe hierzu auch den pseudo-augustinischen Traktat von der Mitte des 11. Jahrhunderts De vera et falsa poenitentla, Migne XL, col. 1113—1130. ® De vera et falsa poenitentia, c. 10, Migne XL, col. 1122. " Anciaux, La théologie, S. 274. Lafranc, Libellus de celanda confessione, Migne CL, col. 630. Siehe hierzu Anciaux, La théologie, S. 35, 164 und Poschmann, BuBe, S. 75. Siehe hierzu auch Å. Andrén, Nattvardsberedelsen i reformationstidens svenska kyrkoliv, 1952, S. 8 ff. Die BuBe wurde seit Petrus Lombardus zu den sieben Sakramenten der Kirche

20 das Bekenntnis vor dem Priester und die von ihm erteilte Absolution zum zentralen Punkt des BuBsakramentsd^ Diese Auffassung des BuBsakraments wurde von der vierten Lateransynode beschlossen und zugleich fiir jedermann die Pflicht eingefiihrt, nach Erreichen der Reife, des anni discretionis, zumindest einmal jährlich dem Priester der eigenen Gemeinde zu beichten sowie jedenfalls zu Ostern am Abendmahl teilzunehmend^ Wie oben erwähnt, kann man die auBerordentlich groBe Bedeutung des Gestandnisses fiir das kanonische ProzeBrecht auf eine zweite Ursache zuriickfiihren, nämlich die Einfiihrung von summarischen Strafprozessen und das inquisitorische Verfahrend® Die Entwicklung des hochmittelalterlichen kanonischen ProzeBrechts muB man ihrerseits sehen vor dem Hintergrund des damals intensiven Kampfes der kirchlichen Reformbewegung gegen alle gerechnet. Poschmann, BuBe, S. 86; Seeberg, Lehrbuch III, S. 281 ff. — Zum Beweise dafiir, daB die Beichte sich auf göttlichen Befehl griinde, berief man sich auf Matth. 8,4, Luk. 17,14, Jak. 5,16, Job. 11,44 und 20,23. Nach Duns Scotus bestand das Sakrament der BuBe nur aus der eigentllchen Absolution, während die Beichte, das Bekenntnis, zu den Voraussetzungen der Vergebung gerechnet wurde. Thomas ab Aquino bezeichnete jedoch die Reue, die Beichte und den Vorsatz als den Inhalt des BuBsakraments und die Absolution als seine Form. Nach Durantis gehörten sowohl die Beichte als auch die Absolution zum Sakrament. Siehe hierzu Poschmann, BuBe, Kap. 3; Seibel, Bekenntnis; Gallén, Botsakramentet; Andrén, Nattvardsberedelsen, S. 11 f. X 5, 38, 12. — Eine Folge der sakramentalen Auffassung von Beichte und BuBe war der Versuch der Abschaffung der Beichte vor dem Diakon. Beichte vor einem Laien wurde nur im Notfall zugelassen. Andrén, Nattvardsberedelsen, S. 12; Poschmann, BuBe S. 94. Mit den anni discretionis meinte man im Mittelalter regelmäBig das siebte Lebensjahr. Es kam aber vor, daB auf Synoden das 10. bis 14. Lebensjahr als anni discretionis angegeben wurde. Ph. Hofmeister, Unterscheidungsalter. — In diesem Zusammenhang sei an die Bestimmungen des kanonischen Rechts iiber Eheversprechen vor und nach der Vollendung des siebten Lebensjahres erinnert, X 4, 2, 4—5 (Alexander III), sowie die geltenden Vorschriften im CIC, C 88, § 3, nach der ein Mensch bis zur Vollendung seines siebten Lebensjahres als Kind angesehen wird. Siehe hierzu auch P. Wirth, Der Zeugenbeweis imkanonischen Recht, 1961, S. 60. Nach der scholastischen Theologie des Hochmittelalters war man eigentlich nur zum Bekenntnis der schweren Siinden in der Beichte gezwungen, während die verzeihlichen auch auBerhalb des Sakramentes abgelöst werden konnten. Jedoch wurden die Gläubigen aufgefordert, auch geringsfiigige Siinden in der Beichte zu bekennen. — In der scholastischen Theologie wurde welter hervorgehoben, daB der Glaubige durch das Sakrament als solches Vergebung seiner Siinden erhielt. —Poschmann, BuBe, S. 94, S. 94, 103; Seeberg, Lehrbuch. III, S. 540; Gallén, Botsakramentet; Andrén, Nattvardsberedelsen, S. 14 f. —Zur Bedeutung des Instituts der Beichte und BuBe fiir das allgemeine RechtsbewuBtsein und die Rechtsentwicklung siehe u. a. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 78, und H. Thieme, Natiirliches Privatrecht und Spätscholastik, 1953, S. 236; J. Gallén, Kanonisk ålder, 1963. J. Ph. Lévy, La hierarchic des preuves dans le droit savant du moyen-age, 1939, S. 40.

21 zersetzenden, in die Irre fiihrenden und zerstörenden Einfliisse auf das Leben der Kirche, ihre Glaubenssätze und ihre Machtstellung. Die Reformpäpste verlangten eindeutige und effektive Regeln fiir ein schnelles Eingreifen gegen säumige und verbrecherische Fursten, Prälaten und Priester, gegen Häretiker und andere Sunder. Man vereinfachte den gerichtlichen ProzeB durch die Zulassung von Verfahren ohne regelrechte Anklage und Beweiserhebung.^® Durch die gleichzeitige Bearbeitung des kanonischen und des römischen Rechts in Bologna und durch die Zusammenarbeit der Kommentatoren kames schlieBlich zumEntstehen einer römisch-kanonischen Rechtswissenschaft,^^ die dem Geständnis im damaligen weltlichen ProzeB einen ebenso zentralen Platz zuwies wie imkanonischen Verfahren. Nach den Quellen zu urteilen, gait die Diskussion iiber die Möglichkeiten einfacher und wirksamer Abhilfe hinsichtlich der deutlichsten und offenbaren MiBstände in der Kirche und dem weltlichen Leben ganz besonders dem Begriff notorium, der in diesem Zusammenhang eine im kanonischen Recht entwickelte Neuigkeit zu sein scheint und später auch von den Bearbeitern des römischen Rechts iibernommen und verwendet wurde.^^ Durch die Entwicklung des wo^o^^^m-Begriffs wurde dann auch der confessioBegriff zu einem der Hauptbegriffe des römisch-kanonischen ProzeBrechts. Bevor wir uns der Untersuchung des Begriffs notorium in der römischkanonischen Rechtentwicklung zuwenden, sei ein Blick auf die ProzeBtypen geworfen, die im Mittelalter durch das römisch-kanonische Recht entwickelt waren oder wurden.^® Es durfte ein Verständnis der Wirkungen des summarischen Prozesses erleichtern. In Strafsachen kamen zwei ProzeBformen vor: zuerst der AkkusationsprozeB und später — im 13. Jahrhundert — auch der InquisitionsprozeB. Der ältere akkusatorische ** Dict.p.c. C 2, q 1, c 14; C 2, q 1, c 15 (Ambrosius), 16 (Nic. I), 17 (Steph. V); Bernhard von Pavia, Summa decretalium, lib. V. tit. 1: Summa Rolandi, C 2, q 1; Summa Rufini, C 2, q 1. W. Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland, 1962, S. 22 ff.; R. StintZING, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland, 1867, S. 487 ff. LÉVY, La hierarchic, S. 32 ff.; J. Ph. Levy, La probleme de la preuve dans des droits savants du moyen-age, 1965, S. 160 ff. Zum Begriff notorium siehe auch C. Gross, Die Beweistheorie im canonischen Process, I, 1867, S. 47—54, II, 1880, S. 4—5, 106—111. In diesem Zusammenhang wird man aus dem Corpus iuris civilis C 9, 2, 7 beachten miissen; Ea quidem, quae per officium praesidibus nuntiatur, et citra sollemnia accusationum posse perpendi incognitum non est. Verum falsis nec ne notoriis insimulatus sit, perpenso iudicio dispici debet. Siehe hierzu N. Munchen, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, I, 1874, S. 231—511. H. U. Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, I, 1907, S. 63 f., 87—145.

22 ProzeB stammte aus dem römischen Reclit.-® Er war vindikatorisch und hatte de Feststellung der gesetzlichen Strafe zum Ziel.-^ In ihm oblag dem Richter nur die formale Leitung des Prozesses und die Verkiindung des Urteils auf grund des von den Parteien vorgelegten Materials. Die eigentliche Siihne des Verbrechens war eine rein private Angelegenheit. Das fiihrte dazu, daB der Verletzte selbst oder seine Angehörigen als Anklager aufzutreten hatten, den ProzeB durch Einreichung einer Anklageschrift einleiten muBten und danach die zur Durchfiihrung des Verfahrens jeweils erforderlichen MaBnahmen vorzunehmen hatten.-- Nach Einreichung der Anklageschrift und ihrer Annahme durch den Richter hatte die klagende Partei sich entweder zum Beweis der Schuld des Angeklagten oder aber — sollte der Beweis nicht möglich sein — zur Ubernahme der gesetzlich fiir die jeweilige Straftat vorgeschriebene Strafe bereitzuerklären. Danach waren sämtliche wichtige Handlungen aufzuzeichnen, die ein Urteil voraussetzte.-^ Sobald das geschehen war, waren der Angeklagte und die Zeugen des Klägers und des Angeklagten zu laden, die Zeugenvernehmung konnte beginnen und die Hauptverhandlung durchgefiihrt werden. Durch die Verkiindung des Urteils war schlieBlich der ProzeB zu beenden. Der inquisitorische ProzeB war schon im karolingischen Recht vorgeC 6, q 1, c 19 (Pseudo-Isidorus) . et nuUae accusationes a iudicibus audiantur ecclesiasticis, que legibus seculi prohibentur“. C 4, q 5, c 1 (Syn. Carthag. Ill, 391); C 2, q 1, c 7 (Gregor I); C 2, q 3, c 5 (Pseudo-Isidorus); C 3, q 6, c 5(Pseudo-Isidorus). C. 9, 1, 4; C. 3, 26, 9; X 5, 3, 32 (Innoc. Ill): . . . credimus distinguendum, utrum is, contra quern agitur de simoniaca pravitate, denuncietur simpliciter, aut criminaliter accusetur, et utrum agatur secundum iuris rigorem, aut secundum temperantiam aequitatis. — XI, 38, 5 (Iiinoc. III). -- Als Anklager aufzutreten waren gehindert nach gloss, ord. ad X 5, 1, 1 s. v. legitimus: Foemina, pupillus, delatus, crimine tentus. Suspectus, quaestu corruptus, sortilegusque Infamis, seruus, pauper, cum milite princcps, Libertus, socius socium, nec non inimici, Clerus ecclesiam nullus deferre nalebit. Minderjährige und Geisteskranke muBten von einem Tutor odcr Kurator vertreten werden. Minderjährige konnten jedoch selbständig als Partein auftreten in Ehesachen sowic in Prebende- und Patronatsrechtssachen, sofern sie das Alter der Pubertät erreicht hatten. \T° 2, 1, 3 (Bonif. VIII). Uber die Befugnis von Ordensangehörigen zum Auftreten vor Gericht siehe C 16, q 1, c 12. Uber das Verbot fiir Exkommunizierte, als Anklager aufzutreten, siche X 2, 25, 12 (Greg. IX). Ober entsprechende Verbote fiir Häretiker, Abgefallene, Juden und infame Personen siehe C 2, q 7, c 25; X 5, 7, 11 (Innoc. Ill); C 2, q 1, c 14 (gibt den Inhalt von D. 48, 2, 8 wieder). -3 X 2, 19, 11 (Innoc. III). Fiir die Zeugen galten die selben Qualifikationsvoraussetzungen wie fiir Ankläger. C 4, q 2, c 1; C 2, q 1, c 7; C 14, q 2, c 1; X 2, 20, 56.

23 kommen.^^ Er wurde später umgeformt und weiterentwickelt. Iniiozenz III. fiihrte ihn in das kanonische Recht ein. ImGegensatz zum akkusatorischen ProzeB sollte er nicht in erster Linie vindikatorisch sein, sondern den Täter bessern und Schadenswirkungen einer Straftat beseitigen. In gewisser Hinsicht glich er dem ZivilprozeB.^® Inhaltlich bedeutete der inquisitorische ProzeB, daB der Richter von Amts wegen auf grund einer öffentlichen oder privaten Anzeige gegen die Straftat einschritt und zur Ermittlung der Wahrheit die gesetzlich zugelassenen Wege beschritt, die er fiir geeignet hielt. Der Richter leitete die Untersuchung und das Verfahren vomAnfang bis zum Ende. Im Rahmen des Inquisitionsverfahrens hatte er als erste MaBnahme durch Vernehmung von Personen, die von der Sache Kenntnis haben konnten, zu untersuchen, ob das bekannt gewordene Geriicht wahr war, d. h. die inquisitio generalis oder famae vorzunehmen.^® Wurde das Geriicht bestätigt, konnte die Spezialuntersuchung, die inquisitio specialis, beginnen, bei der der Verdächtige und Angeklagte vor das Gericht geladen wurde, Beweis erhoben und dem Angeklagten Gelegenheit gegeben wurde, sich zu verteidigen.“^ Bei nicht hinreichendem Beweis konnte dem Angeklagten gestattet werden, sich durch Reinigungseid, die purgatio canonica, freizuschwören.^^* Der klassische römische ZivilprozeB war —wie auch der StrafprozeB — zweigeteilt, der erste Teil, in inre, fand vor dem Prätor, der zweite, in iudicio, vor dem Richter statt. Eine entsprechende Aufteilung des Verfahrens war dem mittelalterlichen kanonischen Recht weder in Strafsachen noch in Zivilsachen bekannt. Zivilprozesse begannen und endeten vor dem iudex. Sie wurden durch die Einreichung einer Klageschrift bei Gericht eingeleitet, die den Klaggrund {fundamentum, demonstratio) und das Begehren {petitum, intentio) bezeichnen muBte. Wurde die Klage angenommen, wurde dem Beklagten die Beantwortung der Klage innerhalb einer bestimmten Frist abverlangt. Bestritt er, ergab sich daraus der Ausgangspunkt fiir den Streit, die litis contestatio. Sie hinderte zudem zukiinftige Änderungen der Klage. Im Zusammenhang mit der Festlegung des Streitgegenstandes muBten die Parteien weiter den Kalumnieneid, das iuramenE. Schmidt, InquisitionsprozeB und Rezeption, 1941, S. 9 ff. F. A. Biener, Beiträge zu der Geschichte des Inquisitions-Processes und der Geschwornen-Gerichte, 1827, S. 120 ff. -® X 5, 3, 31 (Innoc. III) und gloss, ord. ad X 5, 3, 31 s. v. forma „Et ita iudex semper secundum jinem ad quern quis agit, formabit sententiam, hoc est, depositionis in aceusatione, remotionis ab administratione in inquisitione: . . X 5, 1, cc 19, 21, 24 (Innoc. III). Auch farna publica konnte fiir eln Eingreifen seitens des Richters hinreichen. X 5, 3, 31 (Innoc. III). -8 X 5, 1, cc 19, 21, 24. 29 X 5, 1, 24. 9" X 5, 1, 19; X 5, 34, cc 10, 12. Siehe auch C 2, q 5, cc 5—9, 12, 16.

24 tum calumniae —schwedisch vrångoed —, ablegen. Durch diesen Eid bezeugten sie, daB sie den ProzeB nicht aus Bosheit, List oder gegen ihr Gewissen betrieben. Zu Beginn des Prozesses hatte der Beklagte auBerdem zu spezifizieren, was er bestritt oder anerkannte, sowie eventuelle Einwendungen vorzubringen. Auf diese Einwendungen konnte der Kläger replizieren. Der Replik des Klägers konnte eine Duplik des Beklagten und dieser wiederum eine Triplik des Klägers folgen. In Anlehnung an die römischrechtlichen interrogationes und responsiones in iure hatte der Kläger seinen Vortrag in Einzelpunkte, positiones, aufzuteilen, die der Beklagte eindeutig bejahend oder verneinend zu beantworten hatte: scio, non scio, credo, non credo. Dieses Positionenverfahren fiihrte dazu, daB im kanonischen Recht das geteilte und das qualifizierte Geständnis unbekannt blieben.^^ —Nach dieser einleitenden Phase konnten die Hauptverhandlungen und die Beweiserhebung beginnen. Hierbei hatte zuerst der Kläger dem Richter seine Beweise vorzubringen. Der Richter teilte sie dem Beklagten mit, der dann seinerseit innerhalb einer bestimmten Frist seinen Beweis zu fiihren hatte. Das Beweisverfahren wurde auf diese Weise fortgesetzt, bis beide Parteien ihre Beweise erschöpft hatten und der ProzeB entscheidungsreif war. Gewöhnlich konnten die Parteien gegen die Entscheidung an ein höheres Gericht appellieren. Seit der Zeit Alexanders III. kamen auch summarische Zivilprozesse vor, u. a. imZusammenhang mit Ehesachen und Streitigkeiten betreffend kirchliche Amter, Zehnte und die Abgrenzung der Jurisdiktion der weltlichen Priesterschaft von der der Ordenspriester. Man versuchte insoweit den ProzeB durch ein vereinfachtes Verfahren zu beschleunigen. In erster Linie galten Bemiihungen um gesteigerte Effektivität aber dem AkkusationsprozeB; sie hingen zusammen mit den Anstrengungen der kirchlichen Reformbewegung und des Papsttumes um MiBstände, die in gewissen Bereichen der Kirche herrschten. Diesen AkkusationsprozeB meint Gratian, wenn er von einemsummarischeren Verfahren bei manifesten Straftaten spricht. Nach diesem Uberblick iiber die damals aktuellen ProzeBformen wollen wir unsere Untersuchung des Begriffs notoriumfortsetzen, um den sich die Diskussionen der Rechtsgelehrten während der hochmittelalterlichen ProzeBreformen drehte. Den Ausgangspunkt fiir die Entwickklung des Begriffes notoriumbildete das Urteil des Apostels Paulus in 1. Kor. 5,1—5 iiber ein Mitglied der christschnelle Abhilfe der E. Carlquist, Studier i den äldre svenska bevisrättens utveckling med särskild hänsyn till institutet erkännande, 1918, S. 175; C. Gross, Die Beweistheorie im canonischen Process, I, 1867, S. 90. Spätere Kommentatoren meinten, das Positionenverfahren stehe einem qualifizierten Geständnis nicht entgegen, entwickelten aber fiir diesen Fall keine Regeln.

25 lichen Gemeinde in Korinth, das offen im Konkubinat mit seiner Stiefmutter lebte. Dieser Gemeindezuchtsfall wurde später in der Kirche dafur herangezogen, dafi man keine Beweise oder ein regelrechtes Verfahren brauche, wenn die Straftat offenbar und alien Menschen bekannt sei.^- Zu beachten ist auch, daB man zwischen heimlichen und offenkundigen, d. h. allgemein bekannten Straftaten unterschied. Hinsichtlich der letzteren wollte man das Bose möglichst schnell und wirkungsvoll beenden, umnicht ein schlechtes Beispiel zu geben. Daraus ergab sich eine Frage, die unbedingt zu beantworten war: Welche Straftaten waren offenkundig, was umfaBte der Begriff notorium? Aus dem Decretum Gratiani und den folgenden Rechtssammlungen des kanonischen Rechts sowie aus den Arbeiten der Glossatoren und Kommentatoren —auch der römisch-rechtlichen —ergibt sich, wie man mehr und mehr an Präzisierungen und Definitionen des Begriffs notorium arbeitete. In diesem Zusammenhang werden auch Begriff und Institut des Gestandnisses analysiert und eine gewisse Inhaltsbestimmung des Begriffs gegeben.^* Zur Zeit der Entstehung des DecretumGratiani und auch noch lange Zeit danach scheinen die Worte notum, manifestum, publicum, evidens und notoriumals synonyme Ausdriicke fiir denselben Begriff aufgefaBt worden zu sein.^^ Gratian selbst bezeichnet die Verbrechen als manifesta, die zugleich fiir die Augen des Richters und aller anderen offenbar und von dem Angeklagten nicht geleugnet worden seien. In diesen Fällen, meint Gratian, könne ohne ordentliches Verfahren geurteilt werden.^^ Gratian erörtert jedoch nicht, woher die Kenntnis einer Tatsache stammen muB, um sie als manifestumansehen zu können. Die altesten Dekretisten weichen sachlich kaumvon Gratian ab, aber bei ihnen findet man das Wort und den Begriff notorium etwas häufiger, geN. Munchen, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, I, 1874, S. 107 f.; Levy, La hierarchic, S. 33. — Z. B. C 2, q 1, c 17 (Stephanus V); X 2, 28, 5 (Alexander III); Summa Rufini, C 2, q 1. Der Begriff notormm ist Zuletzt von dem schon erwahnten J. Ph. Lévy in der Arbeit La hiérarchie des preuves dans le droit savant du moyen-age depuis la renaissance du droit romain jusqu’ å la fin du XlVe siecle auBerordentlich eingehend analysiert worden. Die folgende Darstellung griindet sich weitgehend auf Lévys Forschungen und die Arbeiten, die er auf S. 32 des erwahnten Werkes nennt. Munchen, Das kanonische Gerichtsverfahren, I, S. 104 ff.; Gross, Die Beweistheorie, I, S. 47 ff.; Lévy, La hiérarchie, S. 36. Z. B. Diet. p. C 2, q 1, c 14; C 2, q 1, cc 15 (Ambrosius), 16 (Nic. I); C 2, q 1, c 17 (Stephanus V) et diet. p. c 17. Siehe weiter Alexander III in X 4, 19, 3; X 1, 17, 10; X 2, 28, 13; X 2, 28, 14; X 4, 13, 3; X 4, 14, 2; X 5, 3, 13; X 5, 21, 2; Innocentius III in X 2, 24, 21; X 3, 2, 8; X 5, 34, 15; X 2, 28, 61. Antonius de Butrio, Tractatus de notorio, art. 1: 13. D.p. C 2, q 1, c 16; d.p. C 2, q 1, c 17; d.p. C 2, q 1, c 19; d.p. C 2, q 1, c 20.

26 legentlich auf Kosten des Wortes und Begriffs manifestumJ^^ Bei Alexaiider III. findet man dann Spuren einer Unterscheidung zum einen dessen was als publicum oder notorium anzusehen ist, und zum anderen dessen, was nur jama publica, ein allgemeines Geriicht, ist.^' Diese Unterscheidung ist jedoch nicht konsequent durchgefiihrt.^® Erst durch eine Distinktion Innozenz’ III. aus dem Jahre 1199 zwischen dem „publicumex evidential und dem nur „publicum ex jama“ wurden im kanonischen Recht beide Begriffe klar von einander getrennt. Fiir den ersteren, publicum ex evidentia, reservierte Innozenz III. den Terminus notoriumP Welchen Inhalt hat der Begriff notorium bei Innozenz III.? Aus den Texten im Liber extra ergibt sich, daB er als notorium eine Tatsache bezeichnet, die alle wahrnehmen können und die der Täter deshalb nicht leugnen kann.^° In diesem Zusammenhang muB man jedoch auch Innozenz’ Bestimmungen des Begriffes manifestum beachten. Durch sie erhalt man eine erheblich nuanciertere und zugleich weitere Bestimmung des Begriffspaares notorium-manifestum, als sie bei Gratian und den älteren Dekretisten zu finden gewesen war. Innozenz III. sagt nämlich: illamnos rescribimus intelligere manifestam, quae vel per confessionem, vel offensam Z. B. Summa Stephani, C 2, q 1: „Ad haec notandum, quod crim'mum quaedam sunt manifesta iudici et non aliis, quaedam aliis et non iudici, quaedam omnibus publice, tarn iudici, quam quibuslibet aliis; quae et notoria sunt.“ Summa Parisiensis, C 2, q 1: „Primo quaestio est quae satis clareret si constaret quid sit notorium.“ Summa Rufini, C 2, q 1: suam apud se impudice tenebat, et ideo Paulus excommunicavit eum nullo accusante; tunc enim non solum manifestum, sed etiam dicitur esse notorium.“ Summa Rolandi, C 2, q 1: „Ad haec notandum, quod criminum quaedam sunt manifesta iudici et non aliis, quaedam iudici et quibusdam. . . . Sunt et crimina iudici et toti plebi notoria, in quibus minime iudiciarius ordo desideratur.“ X 4, 14, 2 und X 5, 3, 13: „publicum et notorium est .. . crimen non est publicum et notorium, si publica laborat infamia . . Levy, La hierarchic, S. 38; Levy, Le problemc, S. 161. Z. B. X 5, 21, 2. Vgl. auch den Ausdruck „quasi notorium ex fama“ bei Honorius III. in X 2, 24, 32. X 3, 2, 8: „. . . Nos igitur consuetationi tuae taliter respondcmus, quod, si crimen eorum ita publicum est, ut merito debeat appellari notorium, in eo casu nec testis nec accusator est necessarius, quum huiusmodi crimen nulla possit tergiversatione celari. Si vero publicum est, non ex evidentia, sed ex fama: in eo casu ad condemnationem eorum sola testimonia non sufficiunt, quum non sit testirnoniis, sed testibus iudicandum . . .“ — Die Distinktion notorium —fama publica ist u. a. zu finden bei Johannes Teutonicus in gloss, ord. ad C 2, q 1, c 15 s.v. manifesta; Hostiensis, Summa aurca. III, de cohabitatione clericorum et mulierum, n. 6; Durantis, Speculum, III, de notoriis criminibus; gloss, ord. ad X 3, 2, 7. Siehe die vorige Note sowie X 5, 34, 15: „. . . Dicitur enim, qtmd crimen eiusdem presbyteri usque adeo publicum fuerat et notorium, quod nullus inficiationi locus penitus exsistebat, utpote cuius universae viciniae populus testis erat, . . sicut fornicator ille Corinthius, qui publice noveream

27 prohationem legitime nota fuerit, aut (etiam) evidentia rei, quae nulla possit tergiversatione celari. Gelegenheit, daB Häretiker als manifesti anzusehen seien, die . . contra jidem catholicampublice praedicant, aut profitentur, seu dejendunt eorum errorem, vel qui coram praelatis suis convicti sunt vel confcssi, vel ab eis sententialiter condemnati super haeretica pravitate;. . Aus diesen Texten kann man schlieBen, daB Innozenz III. meinte, eine Straftat werde manifestum nicht nur dadurch, daB sie von jedermann gesehen werden und deshalb nicht geleugnet werden könne, sondern auch dadurch, daB sie vor dem kirchlichen Prälaten bekannt oder bewiesen werde und eine Uberfiihrung und Verurteilung des Schuldigen zulasse. In dieseni Zusammenhang muB auch der Ausspruch Lucius’ III. festgehalten werden: „Notoriumdefinitur, de quo presbyter canonice condemnatur. Die Erweiterung der Begriffe notoriumund manifestumbei Innozenz III. ist äuBerst bemerkenswert, weil sie die Linie bzw. die Linien vorzeichnet, die fiir die Entwicklung des Begriffes notoriumspäter maBgeblich wurden. Huguccio, ein Zeitgenosse Innozenz’ III., erinnert in gewisser Hinsicht an den Papst, bearbeitet aber den Begriff notorium auf originelle Weise. Er wendet sich gegen die Ansicht von Gratian, eine evidente Tatsache höre auf, notorisch zu sein, sobald der Angeklagte sie leugne. Statt dessen sagt Huguccio: „Ego autem dico quod ex quo semel est notorium, semper est notorium“, und er definiert notorium so: „Dico ergo quod omne et solum crimen est notorium quod ipse qui commisit vel committit illud confitetur . . . Set confiteri intelligo vel ore publice vel evidencia facti. Et si enim ore neget dumrnodo evidencia facti appareat, non minus dicitur notorium . . Bei der Begriffsbestimmung des notorium wird hier der Begriff der confessio in den Mittelpunkt gestellt, aber dieser Begriff confessio ist mehrdeutig. Er kann das Geständnis des Straftaters oder auch die Bekanntmachung durch den Mund —d. h. ein Zeugnis —der Allgemeinheit bezeichnen oder sogar das Bekenntnis, das darin besteht, daB eine Straftat dadurch fiir sich selbst spricht, daB sie eine evidente, von jedermann festzustellende Tatsache darstellt. Offenbar ahnelt Huguccios con- /cssio-Begriff in dem wiedergegebenen Zitat dem notorium-^egr'df Innozenz’ III. Huguccio sagt jedoch nicht ausdriicklich, daB das Verbrechen notoriinn sei, wegen dessen jemand verurteilt worden ist. Bei Tancredus, der eine etwas jiingere Generation vertritt als InnoX 5, 40, 24. X 5, 40, 26. Sichc auch X 2, 28, 61: . . si eius excessiis evidentia rei, vel ipsius confessione, aut modo legitimo fuerit manifestus . . X 3, 2, 7. — Erwähnt werden kann auch ein Ausspruch Gregors IX.: “ peccatum huiusmodi sit notorium per sententiam sen per confessionem factam in iure, aut per evidentiam rci, quae tergiversatione aliqua celari non possit“. (X 3, 2, 10). Levy, La hierarchic, S. 40 f.; Levy, Le probleme, S. 162. Innozenz erklarte auBerdem bei einer anderen a 41 « 43 illud nisi

28 zenz III. und Huguccio und den man iiblicherweise zu den älteren Dekretalisten zahlt, findet man einen doppelten notori«w-Begriff. Er unterscheidet zwischen notorium iuris und notoriumfacti.^^ Zu der ersten Gruppe, dem notorium iuris, zählt er die Straftaten, wegen derer jemand gesetzesgemäB verurteilt worden ist. Notoriumfacti steht bei ihm fiir die Verbrechen, „in quo fama publica suum adminiculum administrat, et ipsa rei evidentia protestatur, nec potest aliqua tergiversatione celari“. Dieser notorium-V»e%v\H wurde weiterentwickelt und näher spezifiziert von Johannes Teutonicus in seinem Kommentar zum Decretum Gratiani. Er meint, es bestehe ein Unterschied zwischen den drei Begriffen fama, manifestum und notorium}^ Fama, das Geriicht, sagt Teutonicus, entsteht gelegentlich aus Wissen und gelegentlich aus Verdacht; manchmal stammt die fama von einem zuverlässigen Gewährsmann, manchmal von einem unzuverlässigen. Manifestum sei das, was sich immer auf Wissen und zuverlassige Autoritäten stiitze und bewiesen werden könne. Die Grenze zwischen manifestumund notoriumhingegen ist nicht so klar: „Itemnotoriumdicitur manifestumquod patet, uel per confessionem, uel per probationem, uel per euidentiam rei“. Die sachliche Ähnlichkeit mit Innozenz III. und Huguccio ist augenscheinlich, obwohl Johannes Teutonicus nicht den selben cow/essio-Begriff verwendet wie Huguccio. Die Ähnlichkeit mit den Ideen Innozenz’ wird jedoch noch deutlicher in Teutonicus’ weiteren Erörterungen zumBegriff notorium. In seiner vertieften Analyse sagt er nämlich, der Begriff notorium sei dreigeteilt: notorium facti, notorium iuris und notorium praesumptionis. Als notorium facti bezeichnet Johannes Teutonicus die Tatsache, die von jedermann erkannt werden könne und die so offenbar, evident sei, daB niemand sie leugnen könne. Der Begriff notorium facti iiberschneidet sich also mit dem Begriff evidentia rei.^^ Zum notorium iuris zählt Johannes Teutonicus die Tatsache, auf grund welcher jemand verurteilt worden ist oder die jemand vor Gericht zugegeben hat. Unter Hinweis auf Innozenz III. fiigt Teutonicus jedoch hinzu, daB eine Verurteilung entsprechende Beweise voraussetze, wenn jemand sich als nicht iiberzeugt bezeichne.^® Weiter reiche nicht immer aus, daB jemand ein Geständnis abgelegt habe, sondern er miisse auBerdem noch iiberfiihrt Tancredus, Ordo iudiciarius, II, 7, 1. Gloss, ord. ad C 2, q 1, c 15 s.v. manifesta. Gloss, ord. ad C 2, q 1, c 15 s.v. manifesta: . . Notorium facti est quod exhibet et offert se oculis omnium, id est, quod ita habet facti euidentiam, quod non potest negari.“ Der Begriff notorium facti kann jedoch nach Johannes Teutonicus seinerseits je nach dem Charakter der Tat in drei Klassen eingeteilt werden; zu unterscheiden sind permanente oder andauernde Tat, oft aber nicht dauernd geschehende Taten sowie schlieBlich momentane, voriibergehende Taten. Johannes Teutonicus verweist auf X 2, 27, 16. 46 48

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